Es kann nur schlimmer werden
Nicht eben frohsinnig gibt sich die Fat White Family auf ihrem exzellenten Album „Forgiveness is Yours“.
In nicht allzu langer Zeit wird aus der kollektiven Erinnerung gelöscht sein, dass Pop einstmals als Synonym für Provokation begriffen worden ist, die Gesellschaft herausforderte, die Altvorderen auf die Palme brachte, moralische Standards einriss. Elvis Presley, Little Richard, die Beatles, Rolling Stones, Doors, David Bowie, Sex Pistols … wer könnte sie alle aufzählen?
Die HipHop-Kultur ist in etwa der Endpunkt dieser Geschichte – und in mancherlei Hinsicht sogar ein Wendepunkt: Sie attackierte nicht nur rassistische Herrschaftsstrukturen, sondern reanimierte mit ihren Tendenzen zu Sexismus und (sporadisch) Antisemitismus auch überwunden geglaubte Frauenbilder und archaische Vorurteile.
Zwar hat es dann immer mal wieder Pop-Künstler gegeben, die in größeren Teilen der Gesellschaft Widerwillen auszulösen vermochten, Pete Doherty oder Kanye West etwa. Das geschah in der Regel aber aus persönlichem Wahnsinn heraus und ohne dahinterstehenden („Master“-)Plan. Die Kunst der gezielten Provokation scheint im Pop eine aussterbende Spezies.
Verstöße gegen den „guten Geschmack“
Vor diesem Hintergrund sticht die britische Fat White Family als schimmernde Ausnahmeerscheinung hervor. Sie verstößt gegen ziemlich alles, was der „gute Geschmack“ ge- und verbietet. Allein der Name!! Unterschichten-Vulgarität hoch drei! Die Bandmitglieder, allen voran Sänger und Hauptsongschreiber Lias Saoudi, möchte man, wenn man ihre Physiognomie betrachtet, eher nicht als Tisch- oder Sitznachbarn haben. Ihre Videos sind zwar künstlerisch hochambitioniert, aber nicht unbedingt appetitanregend fürs Frühstück. Als Bühnenbekleidung reicht Saoudi beizeiten einfach nur eine Unterhose, was nicht wirklich sexy aussieht, sondern die Frage aufwirft, ob das gute Stück (die Unterhose) denn zeitnah gereinigt wurde.
Und schließlich verbergen sich in der Musik, wiewohl die aufs Erste relativ zivilisiert klingt, Abgründe. „John Lennon“ heißt einer der 11 Songs des neuen FWF-Albums „Forgiveness is Yours“. Er ist nicht wirklich sicher als Abreibung des Pilzkopfs zu dechiffrieren, als Huldigung ziemlich sehr sicher aber auch nicht (obwohl Saoudis Stimme zu der Lennons eine natürliche, hier wohl vorsätzlich hervorgekehrte Ähnlichkeit hat). Vielmehr handelt es sich um ein sehr eigenartiges, lauernd-angespanntes, dabei von lieblich-folkloristischen Flötentönen durchzogenes Stück, das von hundert schlauen Rezensenten auf hunderterlei schlaue Weise interpretiert werden kann.
Erzählt wird jedenfalls, dass Lennons Witwe Yoko Ono – „die mit dem Fluxus(-Zeugs)“ – dem Ich-Erzähler auf einer Wendeltreppe begegnet, um ihm zu sagen, er erinnere sie an ihren Ehemann, der sei auch ein Sänger gewesen, you know? Dann scheinen sich alle Ebenen wie in einem Traum zu verwischen, was nebenher ziemlich tolle Zeilen wie „Wenn ich die Hand nach eurem Ruhm ausstrecke / erwisch‘ ich nichts als euren Fluch“ abwirft. Dazwischen gibt es herausfordernde Respektlosigkeiten, wenn Saoudi in Anspielung auf Onos Ersatzmutter-Rolle für den neurotischen Lennon wiederholt fragt, „what´s going on right now mother?“, oder sich einigermaßen höhnisch auf dessen berühmtesten Song bezieht, indem er Wahnbildern ein rhetorisches „imagine this“ anfügt.
Provokant durch ausgefallene Themen
Einem griffigen und daher gerne zitierten Statement von Sänger Saoudi zufolge geht es in „Forgiveness Is Yours“ um „das Leben als ewige Kontingenz… darum, nicht mehr zu ahnen, sondern zu wissen, dass es nie einfacher werden wird… tatsächlich wird es noch viel schlimmer werden, dein Körper wird zerfallen und die Menschen, die du liebst, werden langsam anfangen, um dich herum tot umzufallen…“
Die Schreckensbilder, die in „Bullet Of Dignity“ aneinandergereiht werden, passen ebenso in diesen dramaturgischen Rahmen wie „Visions Of Pain“ oder das gesprochene „Today You Become Man“, in dem Saoudi sehr drastisch schildert, wie sein älterer Bruder im Alter von fünf Jahren ohne Betäubung in den Bergen Algeriens (von wo seine Familie herkommt) beschnitten wurde.
Andere Titel wie „Polygamy Is Only for The Chief“, „Religion For One“ oder „Feed The Horse“ belegen eine für das Pop-Genre sehr ungewöhnliche thematische Ausrichtung. Genau diese Ausgefallenheit verweist wieder auf das eingangs erörterte provokative Potential der Fat White Family.
Gereift (oder so ähnlich)
Das heißt nun, wie schon angedeutet, nicht, dass dabei unhörbare Musik herauskommt. Spätestens mit dem Vorgänger „Serfs Up“ (2019) hat sich in der Ausrichtung der Band Pop-Appeal gegen den lärmigen Garagenrock der Anfangsphase in den frühen Zehner-Jahren durchgesetzt.
„Forgiveness Is Yours“, das eine schwierige Genese hatte, weil Gründungsmitglied, Kreativkraft und Immer-mal-wieder-Aussteiger Saul Adamczewski die Band – diesmal wohl endgültig und, wie man hört, unter recht unerfreulichen Umständen – verlassen hat, ist weniger zugänglich. Dafür zeugt es von musikalischem Wachstum und so etwas Ähnlichem wie, naja, Reifung.
Ein Nebel aus Saxophon, Streichern und Keyboards, der seine Dichte und Umrisse ständig ändert, umweht die auf Standard-Instrumentarium gebauten Strukturen der Songs, aus denen hin und wieder wie in „Polygamy Is Only For The Chief “ eine schneidende Gitarre ausschert. Manchmal werden Erinnerungen an die Roxy Music der „Siren“-Ära geweckt, dann wiederum orientalische Klangteppiche gewoben und stellenweise versenkt sich der Sound in ein trügerisches Sentiment mit nostalgischer Anmutung. Am Ende klingt Saoudi in „You Can’t Force It“ wie ein Frank Zappa, der irgendeinen Schmachtfetzen aus den 50er Jahren parodiert.
Das Tempo ist durchwegs im sehr gemäßigten Bereich angesiedelt – „langsam“ möchte man diese Musik wegen des dem Begriff unterschwellig immanenten Anhauchs von Beschaulichkeit aber partout nicht nennen. Was ihr dagegen – in sehr altmodischer Begrifflichkeit – unbedingt zu konzedieren ist, ist, dass sie mit jedem Durchgang besser wird.
Ein Nebel aus Saxophon, Streichern und Keyboards, der seine Dichte und Umrisse ständig ändert, umweht die Strukturen der Songs.