Orchestrale Musik ohne Orchester

Ein kleines Mehr an Produktionsaufwand führt auf Jessica Pratts viertem Album zu einem künstlerischen Quantensprung.

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8. Mai 2024

Jessica Pratt: Here In The Pitch (Mexican Summer / City Slang)

Kann ein Schritt Richtung Normalität ein Schritt nach vorne sein? Im Falle der 37-jährigen, in Los Angeles ansässigen Sängerin, Gitarristin und Songwriterin Jessica Pratt ja!

In irgendeinem sozialen Netzwerk ist vor ein paar Jahren einmal festgestellt worden, Jessica Pratt würden besonders Leute mögen, die sich für etwas Besonderes halten. „Das nehme ich als Kompliment!“, sagte die Musikerin mit leisem Lachen in einem Interview mit der Wiener Zeitung.

Stichwort „Freak-Folk“

Keine Frage, Jessica Pratt war bis dato nicht nur für Normalkonsumenten absolut unverträglich, sondern sogar für manchen sogenannten Insider eine veritable Herausforderung. Das lag an ihrer – im Wortsinn – einzigartigen, also so kein zweites Mal auf diesem Globus vorkommenden Stimme: ein kehliges, sehr hohes Organ, das irgendwie nicht mit dem Rest der Person mitgewachsen schien; kindlich – gleichzeitig aber auch uralt; beklemmend und als Begleitung nicht mehr als eine zart gezupfte akustische Gitarre brauchend, um eine unheimliche Atmosphäre zu kreieren.

Das schien wie Musik, mit der man sich am besten allein in einen abgedunkelten Raum, den Dachboden oder Keller vielleicht, zurückzog. Wundersamerweise aber fand Pratt, die 2012 ihr selbstbetiteltes Debüt-Album veröffentlicht hat, im Laufe der Jahre trotz spärlicher Veröffentlichungsfrequenz erstaunlichen Publikumszuwachs: Ihr drittes und vordem letztes Album von 2019, „Quiet Signs“, brachte es sowohl in den USA wie auch im UK auf hohe Notierungen in den Independent-Charts.

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Und da ist nun Jessica Pratts neues Album, „Here In The Pitch“. Zu konstatieren, es präsentiere eine vertraute Künstlerin in neuem Gewande, ist fast eine Untertreibung – eher wäre das passende Bild schon eine an der gesamten Gestalt runderneuerte Person.

Eine Ursache dafür ist so trivial wie entscheidend und war seinerzeit schon bei Kate Bush zu erleben: Pratts Stimme ist etwas tiefer geworden und nähert sich allein dadurch der Normalität an. Zum anderen hat sie die Produktion, die sie zusammen mit Al Carlson (der wiederum beim Vorgänger „Quiet Signs“ an den Reglern gesessen ist) selbst verantwortet, ein wenig … wie soll man sagen? bei Gott nicht aufgedonnert, aber etwas aufgepeppt: Drums, Mellotron, Orgel, Glockenspiel, Piano und Flöte begleiten Pratts nach wie vor fragiles Fingerpicking.

Weltkluge Chanteuse

Das Ergebnis ist orchestrale Musik, wo es gar kein Orchester gibt. Im Opener „Life Is“ etwa reicht das Zusammenspiel von verhallten Drums, Bass und Mellotron, um Assoziationen an die Walker Brothers oder gar Phil Spector wachzurufen. Zum anderen verändert sich die Anmutung von Jessica Pratts Musik dramatisch. Nicht mehr einer abgekapselten Außenseiterin meint man hier zuzuhören, sondern von einer weltklugen Chanteuse durch einen bedacht getakteten Reigen von Geschichten geführt zu werden.

Was für Geschichten das sind, das ist freilich nicht sicher dingfest zu machen. Das ist allerdings für die Sängerin, die erklärtermaßen bereitwillig eine konkrete Aussage dem „großen Rahmen“, dem Zusammenspiel von Wort und Musik also, opfert, nicht untypisch: Wenn man einmal meint, einen „Sinn“ erfasst zu haben, verschwimmt er wie in einem Nebelschleier. Oder wie in einem Traum.

Endlichkeit schwebt drohend über dem Horizont

Jessica Pratt: „Es ist der dritte Akt und du versuchst, zurück aufs Pferd zu gelangen“. © Renée Parkhurst, Nina Gofur

Grosso modo geht es jedenfalls, soviel geben die Inhalte von „Here in the Pitch“ schon preis, um die Wechselfälle des Lebens und ihre Unbeherrschbarkeit. „Life Is“ als Einstieg in die LP kann dabei als programmatisch gelten. „Das Leben ist gekommen und gegangen und du bist nicht gelandet, wo du hin wolltest“, erklärt Pratt dazu im Waschzettel ihres (europäischen) Labels City Slang. „Es ist der dritte Akt und du versuchst zurück aufs Pferd zu gelangen.“

(Pyrrhus-)Siege, Niederlagen, sich derrappeln, Vergeltungsgelüste, Erinnerungen an vergangene Beziehungen und Hoffnungen für die Zukunft, und über allem eine unterschwellige Drohung von Endlichkeit – Bruchstück für Bruchstück ergibt sich daraus ein facettenreich gestaltetes Bild emotionaler Befindlichkeit, dessen musikalische Ausgestaltung den noch immer evidenten folkloristischen Grundton mit Einflüssen aus Chanson und Kunst-Pop beseelt, ungemein stimmungsvoll und unterhaltsam abrundet.

Unterhaltsam? Ja, doch. Jessica Pratt offenbart auf „Here In the Pitch“ echte Entertainer-Qualitäten. Und lässt hin und wieder sogar ein vergnügtes Lachen erahnen. Allein ein Titel wie „By Hook Or By Crook“! Oder, um noch einmal das magnifiziente „Life Is“ zu zitieren, ein Zeile wie „The chances of a lifetime might be hiding their tricks up my sleeve“. Jaja, das Leben kann boshaft sein.

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Live in Wien im Rahmen des Blue Bird-Festivals im Porgy & Bess vom 21. bis 23.11.

Jessica Pratt: Here In The Pitch (Mexican Summer / City Slang)

Zu sagen, Pratts neues Album präsentiere eine vertraute Künstlerin in neuem Gewande, ist fast eine Untertreibung - eher wäre das passende Bild schon eine an der gesamten Gestalt runderneuerte Person.