Zurück in die Zukunft
Retro und doch auch vorwärtsorientiert gibt sich der Hamburger Konstantin Unwohl auf seinem schönen elektronischen Album „Neuer Wall“.
„Ich hab viel gesehen / doch die Leute in der Werbung / die machen mich nervös.“ „Vergiss nicht deine Freunde an der S-Bahn.“ „Wer Verrückten in die Karten schaut, ist selbst verrückt.“
Konstantin Unwohl ist, weil seine sonore, im Prinzip wunderschöne Stimme eigentümlich verwaschen rüberkommt, bisweilen schwierig zu verstehen. In diesem Sinn ist sein LP-Zweitling „Neuer Wall“ fast wie eine Platte auf Englisch oder auch in einem regionalen Dialekt aus dem deutschen Sprachraum zu hören: Man versteht das Grundsätzliche; Details, Besonderheiten können durchschlüpfen.
Es ist zum Verständnis des LP-Titels hilfreich zu wissen, dass der Neue Wall eine Geschäftsstraße für Konsumenten* mit hoher Kaufkraft – die Hamburger Fifth Avenue gewissermaßen – ist. Songtitel wie „Ich hass es, wenn man Spaß hat“ lassen dagegen an Klarheit nichts zu wünschen übrig.
Den maßgeblichen Rest besorgt die Information der Plattenfirma, Unwohls zweite LP entlarve „eine Gesellschaft aus recyceltem Plastik zwischen Schein und Sein“. Es geht also viel um die Gesellschaft, ihre Kommunikation, ihren Konsumismus, die Kluft zwischen Vermögenden/(Einfluss-)Reichen und Mittellosen/Außenseitern/Ausgestossenen.
Darkwave
Der Mann, der sich Konstantin Unwohl nennt, ist wie so viele Hamburger Musiker ein „Zuagraster“ und stammt, wie sein bürgerlicher Name Korbinian Scheffold indiziert, aus dem Süden Deutschlands, nämlich dem Allgäu. Das Künstler-Alias Konstantin Unwohl ist eine naheliegende Paraphrase auf den Zustand konstant unwohl.
Musikalisch führt „Neuer Wall“ fort, was Unwohl auf seinem Debüt „Im Institut für Strömungstechnik“ auf den Weg gebracht hat: Jene düstere elektronische Spielart von New Wave, die gerne als Darkwave bezeichnet wird und etwa in Joy Divisons Album „Closer“ zu ultimativer Vollendung gefunden hat, besprenkelt mit ein paar munteren Spritzern Synth-Pop. Sporadische Einsätze einer minimalistischen E-Gitarre geben dem Sound etwas Kante.
Elektronisches Pendant zu International Music
Auch weil Unwohl viel analoges Instrumentarium verwendet, hat das Ganze einen besonders ausgeprägten Retro-Charakter, man darf es auch gerne Retro-Charme nennen. „Eine Träne, kein Rekrut“ erinnert zum Beispiel einigermaßen eklatant an Gary Numan.
Es gibt aber auch Passagen – „Ozean der Zeit“ ist das in mehrerlei Hinsicht schönste Beispiel – da klingt Konstantin Unwohls Musik wie ein elektronisches Pendant zum elegisch-psychedelischen Rock des Essener Weltklasse-Trios International Music (von dem übrigens in gut einem Monat die neue LP „Rüttenscheid“ ins Haus steht). Das liegt nicht nur daran, dass Unwohls Stimme bisweilen jener Peter Rubels ähnelt, sondern auch weil Unwohl das kluge Austarieren von Spannung, Dynamiken und Intensitäten, wie es IM so meisterhaft vorexerzieren, mit seinem elektronischen Equipment praktisch ebenso gut kann. Da ist dann Schluss mit Retro – Tür auf, die Zukunft kann kommen.
*weibliche Form mitgemeint
Es geht um die Gesellschaft, ihre Kommunikation, ihren Konsumismus, die Kluft zwischen (Einfluss-)Reichen und Mittellosen