Zerstörer der Zivilisation

Throbbing Gristle waren eine der extremsten Bands in der Geschichte der Populärmusik und wesentliche Wegbereiter des Industrial-Genres. Das 40-Jahre-Jubiläum ihres Debüts hat das Mute-Label zum Anlass genommen, alle ihre Alben sukzessive wieder zu veröffentlichen.

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17. September 2024

Throbbing Gristle, 2009 bei einem ihrer letzten Auftritte in Originalbesetzung in New York © Seth Tisue/Wikipedia

„In fact, I was the last person who actually spoke to him before he died”, erzählte Genesis Breyer P-Orridge 2007 in der Sendung “Soft Focus” des Fernsehnetzwerks vbs.tv im Guggenheim Museum in New York City. Die Rede war von Ian Curtis, der sich in den frühen Morgenstunden des 18. Mai 1980 in seiner Wohnung in Macclesfield erhängt hatte. Curtis habe P-Orridge am Telefon den Throbbing-Gristle-Song „Weeping“ vom Album „D.O.A the Third and Final Report of Throbbing Gristle” vorgesungen, dessen letzte Zeilen lauten: „I don’t want to carry on / Except I can’t even cease to exist / And that’s the worst.” Es sei P-Orridge sofort klar gewesen, was Curtis vorhatte.

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Wie Curtis‘ Band  Joy Division eine Zäsur vom Punk zu Wave war, die noch heute auf zahllosen neuen Tonträgern und in Proberäumen weltweit nachwirkt, so war auch Throbbing Gristle mit dem Slogan „Industrial music for industrial people“ eine Zäsur, die avantgardistische Experimentierfreude mit Noise, Musique concrète mit Disco oder Psychedelisches mit Abstraktion verdichtete und Stile wie Synthiepop bis zu Techno prägte. Zusammen vielleicht mit Cabaret Voltaire und Einstürzende Neubauten formte TG, was als Industrial in die Musikgeschichte eingehen sollte; TG gab dem Stil überdies den Namen – wobei „Industrial“ im Sinne von TG mehr als Konzept denn als spezifischer Sound zu verstehen war.

Throbbing Gristle: TGCD1 (Mute Records)

Throbbing Gristle: The Third Mind Movements (Mute Records)

TG, gegründet am 3. September 1975, dem 36. Jahrestag der Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich, ging aus der Künstlergruppe Coum Transmissions (CT) hervor, die 1969 u.a. von P-Orridge, der damals noch seinen bürgerlichen Namen Neil Andrew Megson benutzte, in Hull, Yorkshire gegründet wurde. CT war beeinflusst von Dada, Fluxus und den Schriften von William S. Burroughs, Aleister Crowley oder Brion Gysin. Christine Carol Newby aka Cosey Fanni Tutti stieß 1970 zur Formation hinzu. In den frühen 1970er Jahren fand CT in London Unterschlupf in einer Fabrik, die „Death Factory“ getauft wurde, denn Industriearbeit sei Sklavenarbeit und zeichne sich durch „debasing ethics and depersonalisation“ (P-Orridge) aus.

Throbbing Gristle 1980: Peter Christopherson (vorne), Chris Carter, Cosey Fanni Tutti, Genesis Breyer P-Orridge © Mute Records

Die Performances von CT hatten ab Mitte der 1970er Jahre vor allem pornografischen Charakter. Für Splatter-Effekte sorgte der Theaterdesigner Peter Christopherson, der 1974 zu der Gruppe stieß. Chris Carter, der sich mit Lightshows und Synthesizern auskannte, schloss sich CT 1975 an. Am 18. Oktober 1976 trat TG begleitet von einer Stripperin bei der Ausstellung/Performance „Prostitution“ von CT im Institute of Contemporary Arts zum ersten Mal auf.

Geschockter Tory-Abgeordneter

Da der Kunstabend mit öffentlichen Mitteln unterstützt wurde, war auch Sir Nicholas Fairbain, schottischer Tory-Politiker und Parlamentsmitglied, zugegen. Doch was er sah, Exponate mit blutigen Präparaten, Zuschaustellung von BDSM-Praktiken, Pornografie, empörte ihn zutiefst: „It’s a sickening outrage. Sadistic. Obscene. Evil“, urteilte er. „I came here to look, and I am horrified.“ Die Kunstaktion wurde zum Skandal. Fairbain verdammte die Beteiligten: „These people are the wreckers of civilisation“. „Wreckers of Civilisation: The Story of Coum Transmissions & Throbbing Gristle“ wurde später der Titel einer von Simon Ford verfassten Biografie.

Die Wahl des Namens „Throbbing Gristle“, also „pochender Knorpel“, im Yorkshire Dialekt auch als „erigierter Penis“ zu verstehen, deutete von Beginn an die provokative wie parodistische Ausrichtung des Musikprojekts an. TG war nicht gekommen, um Wohlgefühl zu verbreiten. Die Veröffentlichungen – das erste Album „The Second Annual Report“ erschien 1977 auf dem eigenen Plattenlabel Industrial Records – waren sperrig und widerborstig, zum Teil monotone Klangexperimente, denen das Metallene der industriellen Welt und synthiehafte Klanglandschaften anhafteten. Die Musiker hatten keinerlei Vorkenntnisse und wussten häufig nicht, was sie taten, verwendeten jedoch schon Digital Sampling und bastelten sich eigene Instrumente. Die Musik entstand oft spontan und improvisiert. Die Alben, mit irreführenden Titeln wie „20 Jazz Funk Greats“ oder „Journey Through a Body“, waren somit eher avantgardistische Hörspiele, eine in Töne gewobene Adorno‘sche Kritik an der Kulturindustrie und Verweigerung des Konsumismus. P-Orridge verband in seinen Texten Mystisches mit Sexualität und gesellschaftlichen Abgründen. So thematisiert „Maggot Death“ vom Debütalbum die Geschichte des Mörderpaares Ian Bradley und Myre Hindley.

Nach vier Studioalben, diversen Live-Einspielungen, einem Soundtrack für den Film „In the Shadow of the Sun“ von Derek Jarman war vorerst Schluss. 1981 trennte sich die Band.

Kreative Eruptionen

Was dann folgte, waren kreative Eruptionen, die die alternative Musikgeschichte noch einmal umkrempeln sollten. Carter und Cosey Fanni Tutti wurden zu Chris & Cosey, Christopherson und P-Orridge gründeten zusammen mit Alex Fergusson die Band Psychic TV. Bei den ersten Alben der Band waren u.a. Marc Almond (Soft Cell), Geoffrey Nigel Laurence Rushton aka John Balance oder auch David Tibet beteiligt. John Balance gründete 1982 die Band Coil, zu der Christopherson 1984 wechselte. David Tibet gründete Current93 ebenfalls 1982. Sowohl Coil wie auch Current 93 wurden nebst Psychic TV legendär.

Bereits die von CT durchgeführten Performances der 1970er Jahre stellten die Bipolarität der Geschlechter und heteronormative Konzepte in Frage, waren in gewisser Hinsicht queer. Das Gesicht der sich transformierenden Geschlechtsidentität war P-Orridge. Seit 2000 verfolgte er mit seiner Frau Jacqueline Breyer aka Lady Jaye, mit der er seit 1993 verheiratet war, das Kunstprojekt „Breyer P-Orridge“. Ziel war eine pandrogyne Geschlechtsidentität, die hermaphroditisch männliche wie weibliche Attribute umfasste, wie gleichzeitig auch immer mehr zu verschmelzen, „two becomming one“. Beide unterzogen sich diverser chirurgischer Eingriffe, um einander immer ähnlicher zu werden und die Grenzen von DNA und biologischer Bestimmung zu sprengen. Dabei bezogen sie sich auch auf die „Cut-up“-Technik, die Burroughs und Gysin für ihr Buch „The Third Mind“ benutzten, indem sie Erzählungen auseinanderschnitten und neu arrangierten, sodass andere Narrative entstanden. P-Orridge ließ sich zudem ein aus Gold gefertigtes Gebiss einsetzen.

Throbbing Gristle 2006: Christopherson, Tutti, P-Orridge, Carter © Paul Heartfield

2004 war es dann soweit: TG fanden sich für einen Auftritt im Astoria Theatre in London (auf YouTube finden sich sehenswerte Clips dieser Reunion) wieder zusammen, zu dem auch das Studioalbum „TG Now“ veröffentlicht wurde. 2005 folgte ein Auftritt in der Volksbühne Berlin. 2007 erschien das Album „Part Two: The Endless Not“ (mit dem grandiosen „Almost a Kiss“). Im selben Jahr starb Lady Jaye an Magenkrebs. Ein letzter Auftritt in Originalbesetzung erfolgte 2010 in London. Danach erklärte P-Orridge seinen endgültigen Ausstieg aus der Band. Das verbliebene Trio trat als X-TG noch in Bologna und Porto auf. Am 24. November 2010 verstarb Christopherson in seinem Haus in Thailand.

Zwei Wiederveröffentlichungen

Das 40-jährige Jubiläum des Debüts war Anlass für das Mute-Label, nach und nach sämtliche Alben von TG wieder zu veröffentlichen. Mit „TGCD1“ und „The Third Mind Movements“ werden nun gleichzeitig zwei Werke neu aufgelegt, die aus Sicht des Schaffens von TG unterschiedlicher wohl kaum sein könnten. „TGCD1“ vereint zwei Stücke, die am 18. März 1979 im Martello Musik Studio mit einem TEAC-8-Recorder aufgezeichnet wurden. „TGCD-Part 1“ ist ein monotoner, düsterer Industrialklangteppich, während „TGCD-Part 2“ in sphärischen Gefilden wandelt.

Anders „The Third Mind Movements“, das als exklusive CD-Veröffentlichung für die US-Tour 2009 geplant, aber schon einige Jahre zuvor eingespielt worden war. Düster auch hier die Grundstimmung und als Soundtrack für nächtliche Geisterbeschwörungen brauchbar, ein Album, das sich als „creepy“ beschreiben ließe, wären da nicht die letzten drei Stücke, „The Third Mind: 1-3 Movement“, bei denen sich TG klanglich wie melodiös verspielt zeigen und die sich auch für unerfahrene TG-Hörer als Einstieg in das Oeuvre der Band eignen.

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Und was hat das nun alles mit Ian Curtis zu tun? 1990 veröffentlichten Psychic TV den Song „I.C. Water“, bei dem zu Beginn Curtis‘ Stimme zu hören ist, aufgenommen in einem Pub in Manchester. Bei der Hommage schimmert so etwas wie Hoffnung durch: „I see much more clearly everyday / And I sense I can see you play / And there’s always some truth / And there’s always something I should say / There’s always someone there to give me water everyday.” Wasser als Metapher des Sinns, als Metapher für Musik und Kreativität im Meer des Nichts – oder auch für das Ende.

2020 starb P-Orridge an Leukämie. Chris und Cosey sind weiterhin auf www.throbbing-gristle.com aktiv.

Hinweis: Zu P-Orridge siehe auch das Buch von Uwe Schütte: „Godstar. Die fünf Tode des Genesis P-Orridge“ (Reiffer Verlag, 2022).

Throbbing Gristle, 2009 bei einem ihrer letzten Auftritte in Originalbesetzung in New York © Seth Tisue/Wikipedia

Die Wahl des Namens „Throbbing Gristle“, also „pochender Knorpel“, im Yorkshire Dialekt auch als „erigierter Penis“ zu verstehen, deutete von Beginn an die provokative wie parodistische Ausrichtung des Musikprojekts an.