Ein 69er an zwei Abenden

Zum 25. Jahrestag der Veröffentlichung performen die Magnetic Fields ihr Opus Magnum „69 Love Songs“ an zwei Abenden im Wiener Volkstheater.

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6. September 2024

Stephin Merritt, der genialische, wenn auch selten so freundlich wie hier dreinblickende Urheber der "69 Love Songs" © Kevin Vatarola

Diese Platte ließ von Anfang an keinen Zweifel an ihrer Größe: nicht im Titel, der gleichzeitig ihren Umfang (69 Songs auf 3 CDs mit je 23 Stücken verteilt) und eines ihrer zentralen Themen (Sex) in unübertrefflicher Lakonik bezeichnete, und schon gar nicht in der geballten Wucht der Wort-Musik-Einheit, in der Echos von Scott Walker, den Beach Boys, Jaques Brel, Paul McCartney, Richard Thompson, Neil Hannon’s Divine Comedy, der Drama-Chanson-Pop großer Marc-Almond-Solo-Werke wie „Mother Fist“, Synthi- und Electro-Pop, Country, Jazz, Rock, letzte Ausläufer eines nicht unwesentlich Punk-beeinflussten Frühwerks und der „Whitebird“ der psychedelischen Westcoast-Formation It’s a Beautiful Day durchrauschen.

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Mit „69 Love Songs“ waren Magnetic Fields, die vorher nur in der Umgebung ihres Arbeits- und Lebensplatzes New York einige Insider und Trendies erreicht hatten, mit einem Schlag Pop-Geschichte. 1999 in den USA, 2000 in Europa zunächst in Form der einzelnen CDs, dann aber nur mehr im historisch relevanten Dreierpack veröffentlicht, ist der Monolith aus einem Ranking der besten Platten aller Zeiten nicht mehr wegzudenken.

Er triggerte auch beträchtliches Interesse an den immerhin fünf LPs, die die Magnetic Fields vor „69 Love Songs“ gemacht hatten. Und es zeigte sich, dass die Band schon früher weltmeisterliche Songs im Dutzend herausgescheibt hatte: Wendige Electro-Pop-Perlen wie „Born On A Train“, „Swinging London“, „Aging Spinststers“ oder „Desert Island“, herzergreifende Balladen wie „With Whom To Dance“ oder „Why I Cry“; und, um hier auch noch ein konkretes Bespiel des oben zitierten „nicht unwesentlichen“ Punk-Einschlags im Frühwerk anzuführen, Fetzer wie „Baby, You Could Be Famous“.

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Obwohl die Magnetic Fields mit hochkarätigen Musiker/innen besetzt sind, sind sie wesenhaft das Projekt eines einzigen Mannes: Stephin Merritt. Dieser zerknautscht aussehende, kleine, kugelrunde 59-Jährige, der zur Entstehungszeit der „69 Love Songs“ – man muss das wirklich extra erwähnen, weil es heute völlig unglaublich scheint – noch gertenschlank war, schreibt die Songs und Texte, spielt eine Unzahl von Instrumenten, arrangiert und produziert und teilt den Gesang mit (der äußerst sympathischen) Shirley Simms.

Merritt ist ein von vielen Neurosen, wohl auch Komplexen gepeinigter Zeitgenosse – seine Homosexualiät aber hat er stets mit Selbstbewusstsein vertreten. Auch „69 Love Songs“ legt davon Zeugnis ab, etwa im zügigen Rocker „When My Boy Walks Down The Street“. Solche Offensivität war um die Jahrtausendwende noch nicht ganz selbstverständlich; insofern kommen dem Musiker, der beim letzten, fabelhaften Wien-Auftritt der Magnetic Fields im Rahmen des Bluebird-Festivals 2023 im Porgy & Bess seinen Polunder auszog und dann ordentlichst zusammen- und ablegte, sogar etwas Ähnliches wie Role-Model-Meriten zu.

Merritt ungefähr um die Entstehungszeit der „69 Love Songs“

Neben den Magnetic Fields verbrennt Merritt seine kreative Energie mit den Gothic Archies, die er „my gothic bubblegum unit“* nennt und wo ausschließlich er selbst singt, The 6ths, für die er schreibt und Instrumente spielt, das Singen aber prominenten Gaststimmen wie der kürzlich verstorbenen Melanie Safka, Bob Mould, Marc Almond, Dean Wareham, Gary Numan, Neil Hannon oder Odetta vorbehält; und die elektronisch dominierten The Future Bible Heroes, bei denen er die Texte schreibt und ab und zu singt. Schließlich erscheinen noch Platten unter seinem eigenen Namen. Dabei handelt es sich um Soundtracks und Musical-Projekte, für die er Musik und Texte schreibt, als Performer aber gänzlich durch Abwesenheit glänzt.

Ein Mord im Namen von Holland-Dozier-Holland

„69 Love Songs“ brauchte rund ein Jahr zu seiner Fertigstellung. „Das war die Frist, die ich mir gesetzt habe, um es so orchestriert und mit einer Vielfalt von Genres durchzubringen. Wäre es nur Stimme und Piano gewesen, hätte es weniger lang als ein Jahr gedauert. Aber es war eine vernünftig große Band, wo ständig die Instrumente und Genres gewechselt wurden. Für das ist ein Jahr keine besonders lange Zeit.“

The Magnetic Fields: 69 Love Songs (Merge Records)

Entgegen der landläufigen Lesart ist „69 Love Songs“ keine Platte über Liebe, sondern über Liebeslieder. Die korrekte deutsche Übertragung müsste also lauten: „69 Lieder über Liebeslieder“.

In aller absurden Pracht offenbart sich diese thematische Zuspitzung in der beschwingten Mörderballade „The Death Of Ferdinand de Saussure“, die nichts (Erkennbares) mit dem großen Schweizer Linguisten gleichen Namens zu tun hat: Ein Mann, der sich als „great composer“ be-rühmt, verliert seine „composure“** und erschießt im Namen des legendären Songwriter-Trios Holland-Dozier-Holland besagten Ferdinand, weil dieser sagte, er wisse nicht einmal, was Liebe sei.

Liebeslieder als Beistand für Liebende (in allen Stadien des Liebens, insbesondere der Trennung) fokussiert wiederum ein weniger als zwei Minuten langer Track auf der zweiten CD am schönsten: In der schmelzenden Ballade „My Only Friend“ wird Billy Holiday, gemeinhin „Lady Day“ genannt, aufgerufen: „Hey, Lady Day / can you save my life this time? / can you cry so beautifully / you make my troubles rhyme / hey, Lady Day / can you save my life again? / my only love has gone away / will you be my only friend?”. Notabene hat Lichtjahre später auch Lana Del Rey (in „The Blackest Day“) Billie Holiday als persönliche Zeugin ihres eigenen Liebes-Dramas aufgerufen.

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Eine Art Hit hat „69 Love Songs” auch. „The Book Of Love“, sowieso einer der populärsten Songs der Platte, wurde von Peter Gabriel gecovert. Von den Einnahmen aus den Tantiemen kaufte sich Stephin Merritt ein Haus in LA. Dort lebte er von 2006 bis 2012 , weil er seine Arbeit an Soundtracks intensivieren und solchermaßen der Filmindustrie nahe sein wollte.
Dann zog er in ein Haus in Upstate New York, etwa zwei Stunden von der Stadt entfernt. Bei unserem letzten Gespräch im Sommer 2022 war dieses allerdings in Auflösung und in Merritts Leben offensichtlich einiges heftig in Umbruch. Auf die simple Frage, wo er fürderhin seine Zelte aufschlagen werde, antwortete er: „Ich bin gegenwärtig nicht in der Lage, diese Frage in einem Interview zu beantworten. I´m in a period of transistion.“

No synths-Trilogie & 50 Song Memoir

Nach „69 Love Songs“ haben Magnetic Fields viele verschiedene Platten gemacht. Mit „i“ (2004), auf dem jeder Song mit dem Buchstaben i beginnt, startete die sogenannte „No Synths“-Trilogie, die 2008 mit „Distortion“ und 2010 mit „Realism“ vervollständigt wurde. Dass keine Synthesizer verwendet wurden, ist das Einzige, was diese Platten gemeinsam haben, ansonsten sind sie denkbar unterschiedlich: „I“ ist orchestral, majestätisch und streicherlastig, „Distortion“ fährt mit Verzerrer-Rock auf, während sich „Realism“ naturhaft in Folk gibt.

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Obwohl keine dieser Platten auch nur in die Nähe von schwach kommt und sie nicht einmal gegen Merritts eigene Standards dramatisch abstinken, sank mit ihnen die Nachfrage nach Magnetic Fields signifikant. Es bedurfte eines weiteren Monsters, „50 Song Memoir“, der 2017 veröffentlichten, über 5 CDs/Platten verteilten musikalischen Autobiographie zu Merritts 50. Geburtstag am 9.2. 2015, um das Interesse wieder anzuheizen. 2020 erschien dann noch „Quickies“; eine Sammlung von großteils sehr kurzen und naturgemäß nicht immer jugendfreien Stücken, die mit „69 Love Songs“ zumindest die lakonische Prägnanz des Titels gemein hat.

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Stephin Merritt hat mit den Magnetic Fields und den verschiedenen anderen Inkarnationen seines künstlerischen Tuns und Auftretens so viele unterschiedliche Dinge gemacht und Wege beschritten, dass eigentlich nichts bei ihm unvorstellbar erscheint. Umso eigentümlicher, welche Barrieren ihm den Zugang zu manchen Stilen verwehren:
„Ich hatte nie viel für Marihuana übrig und das trennt mich wohl von der Hippie-Kultur. Fünf Minuten lange Gitarren-Soli sind viel interessanter, wenn du auf derselben Droge bist. Ecstasy hab ich nur drei oder vier Mal genommen, daher ist Acid House im Großen und Ganzen verloren an mir. Es ist nicht so, dass ich irgendwas ablehne, das sind nur einfach nicht meine Drogen – und so ist das nicht meine Kultur. Und so empfinde ich eine Menge Musik – dass ich nicht auf derselben Droge bin und mich nicht darauf einstimmen kann.“

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Mit dem dröhnend-vibrierenden MF-Album „Distortion“ machte Merritt indes ein Drogen-Album ohne die dazugehörige Droge. „Bei ,Distortion‘ wurde mir erst ich erst im Nachhinein bewusst, dass ich ein Heroin-Album gemacht habe, obwohl ich kein Heroin nehme. Es hat diesen aufgeputscht-stechenden Sound, der nach Heroin-Ekstase klingt und den man zum Beispiel auf Velvet Undergrounds ,Heroin´ hören kann. Ich habe mich an ,Psychocandy‘  orientiert, das mir nicht als Heroin-Album bekannt war, aber eines ist. Und so habe ich ein Heroin-Album gemacht. Vermutlich werde ich jedoch nie ein Marihuana-Album machen. Aber ich trage dem Umstand Rechnung, dass viele Leute das Musikhören mit Marihuana intensivieren. Daher stelle ich sicher, dass im Hintergrund einige kleine Dinge passieren, die Leute nicht hören, wenn sie nicht die Stereo-Trennung und klangliche Klarheit haben, die Leute aus Marihuana beziehen.“

Die aktuelle Besetzung, die auch schon im Porgy & Bess zu Gast war: Sam Davol (Cello), Shirley Simms (Gesang, Ukulele), Stephin Merritt (Gesang, Gitarre, Ukulele), Chris Ewen (Electronics, Keyboards), Anthony Kaczynski (Gitarre, Keyboards) © Porgy & Bess

Woher er die Wirkung so gut kennt, wo er die Droge doch angeblich gar nicht so mag?
„Mein Ton Ingenieur ist da sehr drinnen, also muss es ich nicht auch sein.“
Klingt klassisch nach fauler Ausrede.
„Ich mag es wirklich nicht – es macht mich paranoid. Es macht nichts Gutes für mich außer der Stereo-Trennung, aber wenn du die willst, musst du nur die Lautsprecher weit genug auseinanderstellen.“

Konzert-Daten

Die Magnetic Fields performen „69 Love Songs“ an zwei aufeinanderfolgenden Abenden am 8. und 9. September im Wiener Volkstheater ab 20 Uhr.
Besetzung: Stephin Merritt, Sam Davol, Shirley Simms, Chris Ewen und Anthony Kaczynski.

 

*Ein Wortspiel: Bubblegum Music ist eine besonders einfache, bisweilen auch einfältige Spielart der Popmusik. Die Archies, eine Retortenband, gehörten mit Hits wie „Sugar, Sugar“ zu den erfolgreichsten Vertretern dieses Genres.
** Natürlich auch ein Wortspiel: „I’m just a great composer / and not a violent man / but I lost my composure / and I shot Ferdinand / crying ,it’s well and kosher / to say you don’t understand / but this is for Holland-Dozier-Holland'“

 

 

 

Stephin Merritt, der genialische, wenn auch selten so freundlich wie hier dreinblickende Urheber der "69 Love Songs" © Kevin Vatarola

Entgegen der landläufigen Lesart ist „69 Love Songs“ keine Platte über Liebe, sondern über Liebeslieder. Die korrekte deutsche Übertragung müsste also lauten: „69 Lieder über Liebeslieder