Eine Wundertüte wie aus dem Bilderbuch

Mit vielen Gaststars inszeniert der Kalifornier Chaz Bear als Toro y Moi auf seinem neuen Album „Holy Erth" einen beindruckenden stilistischen und produktionstechnischen Rundumschlag.

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10. September 2024

Toro y Moi: Hole Erth (Dead Oceans)

Alle hegen und pflegen wir unsere Marotten. Unbelehrbar vom brutal banalen Regelwerk der Business-Realität träumen wir von einer besseren Welt, in der die gloriosen Songs eines Cass McCombs Hits werden. Hingebungsvoll verweigern wir uns Hypes, gegen die angeblich keine Widerstandskräfte mobilisiert werden können.

Und mit seliger Passion hätschelt unsereins den Ausdruck „Wundertüte“. Gemeint ist damit, um das hier ein für allemal und notfalls gerne noch weitere 999 Male zu erklären, ein Werk, das von allem hat: Elemente und Einflüsse aus allen Genres, unterschiedlichste Stil- und Produktionsmittel und im Regelfall viele Mitwirkende unter zentralistischer Steuerung.

Sgt. Pepper“ ist das klassische Beispiel einer solchen Platte – vor allem auch deswegen, weil sie schon bewusst so angelegt war -, Stevie Wonders „Songs In The Key Of Life“, „Sign O‘ The Times“ von Prince oder in etwas jüngerer Vergangenheit „Negro Swan“ von Blood Orange. Natürlich hätten in solch einer Auflistung so große Werke wie Scott Walkers „Climate Of Hunter“ oder Mark Hollis‘ Solo-Album von 1998 ebenso – nachgerade zwingend – ihre Berechtigung, aber irgendwie ist in unserer (meiner) Vorstellung dem Begriff „Wundertüte“ ein gewisser populärer – sagen wir rundheraus: populistischer – Appeal immanent.

Hole Erth“ (sic!!!) von Toro Y Moi ist eine solche Wundertüte, mit allen Facetten und Raffinessen.

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Toro Y Moi, dessen Künstlername das spanische „toro“ (Stier) und das französische „moi“ (ich, mir) verquirlt, heißt bürgerlich Chaz Bear und ist ein 38-jähriger US-Amerikaner halb asiatischer Abstammung. Er gehört zu der Art von Musikern, die alles können, produzieren, Songs schreiben und mehrere Instrumente spielen.

Sechs Platten hat er bisher veröffentlicht, bei denen er ähnlich wie Todd Rundgren das meiste selbst geschupft und trotzdem eine große Anzahl an Gastmusikern aufgefahren hat. Jedes dieser Alben hat es übrigens in die Billboard 200 geschafft, wenn auch mit einer Ausnahme nur in die untere Hälfte.

Chaz Bear aka Toro y Moi © Cinque Mubarak

Mit seiner Vielseitigkeit an Talenten und Fähigkeiten korrespondiert, dass Bear stilistisch schwer festzumachen ist. Er hat starke Bande zu Rap und HipHop, auch zu elektronischer Musik, wird verschiedentlich – mit naturgemäß nur bruchstückhafter Berechtigung – mit Chillwave in Verbindung gebracht, zeigte bei seinem letzten Album „Mahal“ von 2022 sogar eine Affinität zu Jazz und Psychedelia und kann, wie sich latent zwar schon seit jeher, auf seinem neuen Album aber so nachdrücklich wie noch nie zeigt, auch Rock sehr gut: Hochkarätigen potentiellen Stadion-Rock, wie man ihn auch der weiblichen Indie-Ikone Torres konzediert. Dass „Reseda“ dabei in den vielstimmigen Kanon jener Songs einstimmt, die den Pixies-Monolithen „Where Is My Mind?“ paraphrasieren zu müssen meinen – geschenkt.

Im zitierten Stück wird Bear von den Rappern Duchwrth und Elijah Kessler unterstützt. Weiteres helfen ihm auf „Holy Erth“ Death-Cab-For-Cuties-Mastermind Ben Gibbard, Soul-Crooner Don Toliver, der Punk-/Grunge-Rapper Kenny Mason, Kevin Abstract, Lew, Glaive sowie Aaron Maine, der sich in Kürze mit der neuen Platte seiner Band Porches so heftig wie noch nie präsentieren wird, mit stimmlichen Beiträgen.

Ob dieser Personalaufwand wirklich nötig war, darf in Einzelfällen durchaus in Frage gestellt werden. Aber dieses permanente Reinfunken von zweiten und dritten Stimmen befördert auf seine Weise das Grundgefühl dieser Platte, nämlich dass hier alles wurlt, vibriert und an jeder Ecke eine Verwerfung wartet. Bear lebt ja auch im erdbebengefährdeten LA – und zwar just im Promiviertel Hollywood, mit dem er aber, wie der gleichnamige Song mit Ben Gibbard als Gaststar vorführt, höchst unzufrieden ist.

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Rock ist noch einmal im prachtvollen „Tuesday“ ein Thema. Ein tolles, aus verfremdeten Stimmen um das Wort „Realize“ gewundenes Loop trifft auf eine gleichermaßen primitive wie brutale Distortion-Gitarre und führt in eine attraktive, gut zu Bears Allerweltsstimme passende Pop-Melodie. Im Text wird der Aufstand gegen die Kultur- und Unterhaltungsindustrie geprobt: Bear fordert Komplexität, Unberechenbarkeit – genau das, was diese Branche fürchtet wie der der Teufel das Weihwasser.
Der in solchen Inhalten spürbar werdende, bei einem prototypisch modernen Künstler wie Chaz Bear eigentlich überraschende Kulturpessimismus – nennen wir es besser Kulturverdrossenheit, noch genauer: Kulturgeschäftsverdrossenheit – findet sich mittelbar auch in „CD-R“, wo Bear neben Erinnerungen an frühere Tourneen – Schneestürme, im Gatsch steckengebliebene Gefährte etc. – auch eine Ära beschwört, in der man sich Playlists noch selbst zusammengestellt (und auf CDs gebrannt) hat und nicht das Kuratieren irgendeiner Software überlassen hat.

Zu den nicht wenigen Highlights von „Holy Erth“ ist der als reizvoller Zwitter zwischen Rap und Gesang mit Autotune-Backing über einem kräftigen elektronischen Beat angelegte Opener „Walking In The Rain“ zu zählen. Der möglicherweise verblüffendste Teil des Albums findet sich indes am anderen Ende. Da wird nämlich in die eingängig-melodiöse, akustische Ballade „Heaven“ mit beispielloser Lässigkeit ein Exzerpt aus „Anthems for a Seventeen Year-Old Girl“ vom legendären kanadischen Indie-Kollektiv Broken Social Scene eingebaut: „Park that car, drop that phone / sleep on the floor, dream about me“. Und es fügt sich so nahtlos in seine neue Umgebung, als hätte es schon immer dort hingehört.

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Toro y Moi: Hole Erth (Dead Oceans)

Nachdrücklich wie noch nie zeigt „Hole Erth", dass Toro y Moi auch Rock sehr gut kann.