Alles in Schwebe
Eher wenig Bodenhaftung, aber Ideen- und Stilvielfalt vermittelt Ex-Wild Beasts-Bassist und -Sänger Tom Fleming mit der zweiten LP seines Solo-Projekts One True Pairing.
Es ist eine recht zwiespältige Sache, wenn das persönliche Fürwort, erste Person, Singular in Reviews zum Einsatz kommt. Einerseits sind Rezensionen unleugbar subjektiv, warum das also nicht gleich offen ausstellen?, andererseits passiert es dann gerne, oft und rasch, dass man mehr über den* Schreiber als die besprochene Platte erfährt.
Wenn es hier geschieht – ich mach´s nicht oft, versprochen! – dann deshalb, weil wir es hier mit einer besonderen Tücke der Rezeption, nämlich der Irrigkeit des ersten Eindrucks zu tun haben.
Also: Ich habe „Endless Rain“, die neue Platte von Tom Flemings Solo-Projekt One True Pairing, durchaus sofort gut gefunden. Allein die Geschichte des Künstlers bewahrt sie vor allzu krasser Unterschätzung. Und man spürt vom ersten Takt an die Grandezza der Musik, ahnt – selbst wenn man zunächst gar nicht besonders darauf geachtet hat – die Tiefe der Texte. Aber um „Endless Rain“ zu verfallen, habe ich drei, vier Durchgänge benötigt.
Es helfen ein paar Verhaltensregeln, um das Werk in seiner ganzen Pracht (ein)schätzen zu lernen: Nicht beim Ausräumen des Geschirrspülers oder dem Trockenwischen des Badezimmerbodens spielen (nichts gegen Musik, die solche Prämissen erfüllt); konzentriert zuhören. Wirken lassen. Nach dem Abspielen ein paar Minuten lang nichts Neues im Abspielgerät Ihres Vertrauens anwerfen.
Dann offenbaren sich Dinge, die man anfangs nicht oder kaum bemerkt hat: Welche Dynamik diese Musik trotz ihrer weitgehend akustischen Instrumentierung entfacht. Wie mühelos sie, oberflächlich im Folk zu verorten, stilistische Grenzen und das, was man landläufig konventionelle Songstrukturen nennt, überwindet. Die Kühnheit der manchmal fast plastischen, wildromantischen bis harschen Arrangements.
Und, die allerbeste, weil zugleich quintessenzielle Hörerfahrung: die dramaturgische Geschlossenheit, wie die musikalischen und inhaltlichen Bausteine zu- und auseinanderdriften, sich abwechseln, ergänzen und am Ende zu einem schlüssigen Ganzen zusammenfügen.
Große Vergangenheit: Wild Beasts
Tom Fleming war Bassist der großen englischen Indie-Soul-Folk-Band Wild Beasts. Zwar stand er als Sänger und Songschreiber im Schatten des exaltierten Hayden Thorpe, trotzdem waren seine zwei, drei Einsätze pro Wild-Beasts-Album eine wohltuende Abwechslung, konnte doch Thorpes üppig kandierte Gefühligkeit über die Langstrecke schon einmal ein Völlegefühl hervorrufen.
„Jesus was a woman“, schrieb und sang Fleming etwa in „Daughters“ auf dem Album „Present Tense“: Noch immer werden solche Zeilen in klerikalen Kreisen nicht gerne gesehen und gehört.
Nach dem Ende der Wild Beasts im Jahr 2018 nahm Fleming das Pseudonym One True Pairing an und betitelte so auch sein erstes Album. Erstaunlich Richtung amerikanischen Mainstream-Rock der mittleren 80er Jahre driftend, war es zwar nicht schlecht, wurde Flemings Potential aber nur unzureichend gerecht.
Er selbst hat es einmal – halb im Scherz und doch nicht ganz falsch – als sein „Born In The USA“ bezeichnet. „Endless Rain“ wäre, will man unbedingt im Springsteen-Bild bleiben, „Nebraska“.
Haus weg, Geld weg, Lebensgefährtin weg, und eine Woche Dauerregen
Das zweite Album unter dem Moniker One True Pairing reflektiert die Situation, in der sich Fleming zu Weihnachten 2019 wiederfand: Haus weg, Geld weg, Lebensgefährtin weg – und eine Woche Dauerregen, sodass die Gullys übergingen, das Wasser also, wie im Titelsong auch angesprochen, von unten wie von oben kam.
2022 war Fleming, nachdem er eine Schreibblockade und die Pandemie überwunden hatte, soweit, seine Krisen und die daraus resultierende Persönlichkeitsentwicklung kreativ zu verarbeiten, und eine Platte zu machen, die einen Bogen spannt von Kindheitserinnerungen bis zu aktuellen Herausforderungen wie dem Altern, psychischen Ängsten, menschlicher Hinfälligkeit, dem Akzeptieren von Unvermeidlichem.
Dafür bezog Fleming ein Studio in Dublin mit Produzent John Murphy (u.a. Lankum, black midi) und einem guten halben Dutzend erlesener Musiker, die aus unterschiedlichsten Lagern von Roots-Musik bis Noise-Rock kamen.
Die Streicher – Kate Ellis am Cello und Cormac MacDiarmada an der Fidel – liefern die spektakulärsten Einlagen, während die übrigen, ihnen in nichts nachstehenden Akteure den Sound wechselweise grundieren, akzentuieren, kolorieren: Josh Taylor-Moon, der Flemings frühere Agenda am Bass übernimmt, aber auch Synthesizer und Mellotron spielt, Computer-Drums und Samples programmiert; Eleanor Myler an echten Drums und Percussion, Caimin Gilmore am Kontrabass, sowie für gelegentliche Trompeten- und Waldhorn-Einsätze Romain Bly und einmal Méabh McKenna an der Mundharmonika. Fleming, alleiniger Autor sämtlicher 13 Songs, singt, spielt Gitarre, Piano, Synthesizer, Hammondorgel, Percussion, Bouzouki und Taishōgoto, eine japanische Kastenzither.
Diese Künstler breiten in wechselhafter Stärke vom minimalen Duo-Format bis zur vollen siebenköpfigen Belegschaft eine Klanglandschaft aus, die sich von Kammermusik bis zum entgrenzt-individualistischen Folk eines Richard Dawson erstreckt.
Der Opener „As Fast As I Can Go“ kontrastiert eine getragene Melodie mit einem munter klickernden Leitmotiv, das von einer gezupften Fidel oder auch einem Percussion-Instrument kommen könnte (für „The Qietus“ klingt es wie eine Vielzahl von Speichen, die angeschlagen werden), und nimmt mit mächtig hallenden Drums Fahrt auf.
Konsequenter im gemäßigten Bereich bleibt der Titelsong, den wiederum die Fidel, diesmal gestrichen, umtreibt.
Eigentümlichkeiten
Zwei Eigentümlichkeiten fallen auf an dieser Platte: Obwohl das Tempo meist moderat angelegt ist, wirkt die Musik nur selten wirklich langsam. Eine permanente Unruhe wieselt um Flemings (an)klagende, relativ tiefe, dunkle, beseelte Stimme; perkussives Geschepper, irritierende Soundspitzen und kleine Dissonanzen vertreiben selbst in schlagzeuglosen Balladen jeden Anhauch von Beschaulichkeit.
Und alles hier scheint zu schweben. Ein Grund kann sein, dass die Instrumentaleinsätze so kurz und unkonventionell angelegt sind, dass sie kaum je Bodenhaftung annehmen können. In „A Landlord’s Death“, einem der wenigen schnelleren Songs, scheint MacDiarmadas Fidel Flügel zu bekommen, „Doubt“ wird von animierten Gitarren, Samples und Synthies aufgetrieben, während das siebenminütige „Frozen Food Center“ anmutig über eine behände gezupfte Akustik-Gitarre und ein sphärisches Cello gleitet.
Der in mehrerlei Hinsicht unfassbaren Musik entsprechen inhaltliche Ambivalenzen. Düstere Motive werden konterkariert von Bildern der Zuversicht und vice versa.
Beim Nach-Hause-Kommen – im Pop eine beliebte Metapher für Konsolidierung, Seinen-Platz-gefunden-haben – lauern hinter Bäumen glühende Augenpaare. Der titelgebende „endlose Regen“ treibt Tiere und Geister aus ihren Löchern, aus dem Boden, von hinter den Wänden hervor – aber da ist auch ein Versprechen von Ruhe und Geborgenheit. Ein Tunnel, in dem sich der Protagonist gegen die Unruhe der Welt abzuschirmen trachtet, schließt sich um diesen. Ein Prinz der Finsternis spendet Trost.
In solchen Szenarien wird nebenher auch eine empathische Offenheit für das (vermeintlich?) Fremde/Unheimliche spürbar. Ergänzt werden sie von Momenten purer Ratlosigkeit („Mid-Life Crisis“), Abrechnungsphantasien wie in „A Landlord‘s Death“ und grantiger Anklage in „Ruthless Streak“.
„We all rely on each other“, lauten die letzten Zeilen der LP, die wie ein Resümee der thematischen Gemengelage anmuten: Dieses Leben mag beizeiten beschissen sein, aber wir haben nur das eine. Machen wir das Beste daraus.
*Weibliche Form kaum mitgemeint, weil das Phänomen sehr männlich ist.
Obwohl das Tempo meist moderat angelegt ist, wirkt die Musik nur selten wirklich langsam. Eine permanente Unruhe wieselt um Flemings (an)klagende, dunkle, beseelte Stimme.