Gute Orte & Mysterien
Singles als Aperitif & Appetizer für kommende Alben: Eine kleine Auswahl an Songs von u.a. International Music, Tindersticks, Nada Surf und Nilüfer Yanya.
Meine ersten Singles in den frühen Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts (und Jahrtausends!) waren „Crocodile Rock“ von Elton John und „Wig-Wam Bam“ von The Sweet – beide in Form kleiner Vinyl-Scheibchen, abgespielt auf einem Radiogerät mit Plattendeck (das nur für 45er-Singles geeignet war).
Seit dieser technoiden Steinzeit hat sich die Single, die damals noch weitgehend als Song für sich selbst (und – zumindest angepeilt – für diverse Hitparaden) stand, nicht nur im Abspielformat weiterentwickelt, sprich: entmaterialisiert, sie hat auch eine andere Funktion angenommen. Heutzutage sind Singles in erster Linie Vorboten auf kommende Veröffentlichungen, Fulltime-Alben oder EPs, somit vorzeitige Auskoppelungen, die als Appetizer fungieren (sollen). Da kann die buchstäbliche Vorlaufzeit ruhig ein halbes Jahr und mehr betragen.
Die Salzburger Indie-Formation Please Madame etwa hat ihrem am 13. September erscheinenden neuen Album („Easy Tiger“) heuer bereits vier Singles – nahezu im Monatsabstand – vorausgeschickt, die das klangliche Spektrum der Band, die neben zahlreichen Auftritten bei Festivals u.a. auch als Support für Foals und Hurts fungierte, in allen Schattierungen präsentieren sollen. Von knackigem Funk-Rock bis zu experimentelleren Klängen („Moron“) und einer Ballade im Sechs-Achtel-Takt („Ocean“) reicht dabei die Mischung. Mir gefällt von all den Vorboten „What Keeps Me Up“ am besten, das für die druckvollere, akzentuiert synkopierte Spielart des Quartetts steht, und in manchen Passagen durchaus an die Foals erinnert – denn fürwahr: It keeps me up!
Geradezu zurückhaltend war das deutsche Trio International Music in seiner Vorab-Politik, indem es dem bereits für 6. September angekündigten neuen Album, „Endless Rüttenscheid“ (das hier ausführlicher behandelt wird), lediglich zwei Auskoppelungen vorausgeschickt hat, die – ganz im Gegensatz zu den zumeist gefinkelten bis verrätselten Textkreationen – konzise und zumindest eindeutige Titel tragen: Neben „Im Sommer bin ich dein König“ ist es vor allem „Guter Ort“, das bzw. der einem sofort in Kopf und Glieder fährt. Ein herrlich hibbelig-zappeliger Song, der einen hymnischen Refrain ausfährt und einmal mehr zeigt, wie unglaublich kreativ das Trio auf minimalem Raum musikalisch agiert. Ein wahrlich mehr als guter Ort …
… aber wir ziehen weiter. Von Rüttenscheid (übrigens ein Stadtteil von Essen) in den Norden, nach Dänemark, wo ein anderes Trio, nämlich Efterklang, mittels feierlich-solemner Vorabklänge auf sein am 27. September erscheinendes Album („Things We Have In Common“) aufmerksam macht. Das geschieht u.a. mit einem ans Herz, ein bisschen aber auch auf die Nerven gehenden Gemeinschaftssong mit einem süddänischen Mädchenchor („Animated Heart“), weshalb wir uns lieber „Getting Reminders“ als üppigen Klang-Aperitif gönnen, denn dabei gibt es eine Kooperation mit Zach Condon alias Beirut, der auf seine unverwechselbare Art – irgendwo zwischen Zirkuszelt und Trauermarsch – in die Trompete bläst. (Am 5. November treten Efterklang live im Wiener B72 auf, allerdings ohne Beirut.)
In eine andere Klangwelt, die deutlicher cineastisch ausgerichtet ist, mit Anklängen an französisches Cinema Noir, entführt die deutsche Band Suzan Köcher’s Suprafon – ein wahrlich klingender Name. „Sleepless Strangers“ ist – so paradox kann filmischer Pop mitunter sein – eine nostalgische Vorausschau auf das für 11. Oktober angekündigte Album „In These Dying Times“. Dieser Titel bekam kürzlich makabre Aktualität, als Suzan Köcher mit ihrer Band in Solingen auftrat, wo der schreckliche Terrorüberfall stattfand, nur wenige Meter von der Bühne entfernt. Ein Grund mehr, von der trostlosen Realität rasch in jene aus Traum, Sehnsucht und Psychedelik gespeiste Film- und Musikwelt überzublenden, die diese Gruppe formvollendet synästhetisch zu generieren versteht.
In ganz ähnliche, nachtblaue Stimmung sind nahezu alle Alben der Tindersticks getaucht & getönt. So auch das neue, am 13. September erscheinende „Soft Tissue“, von dem „Always A Stranger“ einen für die englische Gruppe ziemlich typisch verwunschen-verwaschenen Vorgeschmack bietet. Sänger Stuart Staples ist sich des Diffusen, Hypnotischen und Mysteriösen dieses Songs voll bewusst, vor allem wohl auch deshalb, weil dessen Ursprung für ihn selbst im Unklaren liegt: „.. some songs I don’t understand where they come from at all – they just kind of happen. ,Always a Stranger’ is one of those songs, it holds a kind of mystery to me at the very centre of it.“ Diesem Myterium kann man sich auch live (an)nähern, wenn die Tindersticks von 2. bis 4. Oktober zu drei Konzerten wieder einmal ins Wiener Theater Akzent kommen.
Nach Wien kommen auch Nada Surf, die es fast genauso lange gibt wie die Tindersticks (Gründungsjahr 1991), nämlich seit exakt dreißig Jahren (da erschien, 1994, ihre Debüt-Doppelsingle „The Plan/Telescope“), nämlich am 4. Dezember in die Arena. Zuvor, am 13. September, erscheint noch ihr neues Album, „Moon Mirror“, das – als Art Vorausspiegelung – auch bereits drei Singles abgeworfen hat. Neben dem etwas länglichen, nicht so wirklich abhebenden „New Propeller“ und dem leicht resignativen „Losing“ auch noch „In Front Of Me Now“, welcher Song mit seinem breitbeinigen Geradeaus-Rock und dem stets gut gelaunten, immer etwas (zu) hoch angelegten Gesang von Matthew Caws am typischesten für die unermüdlich veröffentlichende und tourende US-Band ist, die – als eine Art etwas elaborierterer Wiedergänger von Status Quo – die vielleicht höchste Duracell-Standhaftigkeit im Popzirkus aufweist.
Noch nicht so lange dabei, dafür sogleich nachhaltig in Szene gesetzt (ab 2016, mit ihrer ersten EP) hat sich die britische Sängerin und Gitarristin Nilüfer Yanya, deren drittes Album, „My Method Actor“, ebenfalls – wie so viele Releases dieser Tage – am 13. September erscheinen wird (erstmals bei Ninja Tune). Der Titelsong, eher jazzig & elektronisch angelegt, kann als Vorabsingle nicht ganz so überzeugen wie „Like I Say (I Run Away)“, die mit ihrer virtuosen Stop-&Go-Technik auf der Gitarre (aber auch mit der Stimme) einen immensen Druck und Sog erzeugt, ein spezielles rhythmisches Wesensmerkmal dieser Künstlerin, mit dem sie nahtlos an die Darbietungen ihrer fulminanten LP „Painless“ anschließt – eines meiner Lieblingsalben aus dem Jahr 2022.
Die einzigen Singles, die in dieser Sammlung nicht gezielt auf ein neues Album hinauslaufen oder darauf verweisen, sondern jeweils für sich selbst stehen (und Stück für Stück mit einem Brief, der die Geschichte und Hintergründe der Songs erläutert, begleitet werden), stammen von SAMAJAI aus Norwegen, versehen mit dem Zusatz „(them/they)“, was darauf verweist, dass es sich dabei um eine Künstlerpersönlichkeit mit fluider Identität handelt. Vier Songs sind heuer bereits erschienen, allesamt theatralisch inszeniert und aufgemotzt, also eindeutig der Gattung Drama-Pop entstammend, was bei jemandem, der/die Chris Isaak und Cigarettes After Sex als primäre Bezugrößen nennt, wenig verwundert. So wie auch der androgyne Gesang, der den Songs eine wehmütig-schmachtende Note verleiht. Besonders schön und eindrücklich ist das bei „Judas“ in Szene gesetzt, der neben biblischen Verweisen, darbender Sehnsucht und gleichzeitiger Selbstverachtung („I can catch myself in your taste / That bittersweet part of myself that I so hate …“), auch mit einer hübschen nostalgischen Referenz an Lee Hazlewoods und Nancy Sinatras „Summer Wine“ aufwartet (siehe & höre dazu auch Folge 2 unsere Serie „Under Cover“ zu diesem Hit). Prost – und runter damit!