Außerirdische und ewige Sitzenbleiber

Ein erster Song-Reigen des Jahres 2025 mit neuen Veröffentlichungen von u.a. Ava Max, FKA twigs, The Lumineers, Tocotronic und The Weeknd.

Von
25. Feber 2025
Songs 2025

Nicht von dieser Welt: Ausschnitt aus dem Video zu "Perfect Stranger" von FKA Twigs (c) YouTube

Schon lange, bevor Identitäts- und Genderfragen zu so kontrovers diskutierten gesellschaftlichen Fragen wurden wie in diesen Zeiten (mit all den auch daraus folgenden politischen Verwerfungen und Erhitzungen), war Pop stets jenes künstlerische Feld, auf welchem neue Identitäten und Zuordnungen kreativ & spielerisch ausprobiert und inszeniert werden konnten. David Bowie’s Ziggy Stardust (1972) sei als vielleicht bekannteste queere Persona im Popkosmos genannt, der unzählige mehr oder weniger schillernde Beispiele folgten. Und die Entwicklung neuer künstlerischer Identitäten durch Namensänderungen bzw. -erfindungen ist überhaupt die gängigste und weitgehend unspektakuläre Praxis seit frühesten, nicht nur pop-musikalischen Tagen (man denke nur an Udo Jürgens).

Damit sind wir schon bei Kayleigh Amstutz, die selbstverständlich auch nicht unter diesem Namen firmiert, der ihr womöglich nicht diesen weltweiten Erfolg verschafft hätte, den sie als Chappell Roan vor allem im vergangenen Jahr eingefahren hat – und der sie heuer sowohl in der BBC-Soundwertung als auch bei den Grammys zur vielversprechendsten Künstlerin des Jahres hat werden lassen. Wobei sie, aus Missouri stammend, bei der Namensfindung gleich in ihrer familienhistorischen Tradition fündig wurde – und sich nach ihrem Großvater und dessen Lieblingssong (Dennis Chappell, „The Strawberry Roan“) benannte.

Übersong des Vorjahres

But what’s a name? Wahrscheinlich ist ihr Massenerfolg (46 Millionen „monatliche Hörer/innen“ alleine auf Spotify) doch eher dem flotten, quicklebendigen 80er-Pop und ihrer Bühnen-Erscheinung, die sie selbst als eine „larger-than-life, drag queen version of myself“ beschreibt, zu verdanken. Beispielgebend verkörpert ist all das in dem Übersong „Good Luck, Babe“, der auch eine queere Thematik (und Problematik) behandelt. „It’s a pop song with a sad element to it“, erläuterte Roan in einem BBC-Interview, denn: „It’s very common in queer relationships, when someone is still coming to terms with their queerness, [that] they’ll kiss 100 boys to ,stop the feeling’, as the song says.“

Obwohl (noch) aus dem Vorjahr stammend, aber weil so prototypisch für das gesamte Genre und mit seiner Catchyness musikalisch weit in dieses Jahr hineinstrahlend, eröffnen wir den Songreigen 2025 mit dieser Paradenummer.

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Anrührende Trans-Lieder

Erst heuer, Mitte Jänner, bei uns herausgekommen ist das Debütalbum „You Are The Morning“ der aus Manchester stammenden trans Frau Jasmine Cruickshank, die – bei diesem Namen ebenso wenig verwunderlich – ein künstlerisches Alias verwendet, das Jasmine.4.t lautet. Dem Urteil des deutschen „Rolling Stone“ („ein paar ziemlich anrührende Lieder darüber …, wie es ist, sich endlich im eigenen Körper wohlzufühlen und Zärtlichkeiten jenseits von Geschlechterkonventionen zu entdecken“) ist wenig hinzuzufügen – nur dieser beispielhafte, also all das wunderbar zum Ausdruck bringende Song, „Skin On Skin“.

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Leichtfüßiges Debüt

Über SEDA, eine queere, non-binäre Person mit türkischen Wurzeln in Deutschland, wissen wir (noch) nicht viel, außer dass deren Mitte Februar veröffentlichte (Debüt-)EP „where do I go“ ganz bezaubernde (sechs) Songs mit Funk-, R&B- und Dreampop-Anklängen enthält, die erstaunlich leichtfüßig & souverän daherkommen. Der Titelsong ist – als pars pro toto – dafür das allerbeste Beispiel. Dass es SEDA an Selbstbewusstsein keineswegs mangelt, kommt in diesem Song auch unüberhörbar zum Ausdruck: „But if I’m not safe to be myself, then I don’t know. Where do I go?“

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Überirdisch & herkömmlich

Mit auch nur im Ansatz klassischen Identitäts- oder Genderzuschreibungen hält man sich bei Tahlia Barnett aka FKA twigs längst nicht mehr auf – stattdessen vermutet man in ihr/ihm/es eher eine Art Außerirdische, die alle paar Jahre auf (Pop)Erden herniederkommt, um mittels Alben astrale Sinnlichkeit & Cybersex zu zelebrieren & zu verbreiten. Der neueste Streich, bzw. Niederschlag heißt „Eusexia“ und wird als „Practice and A State Of Being“ angepriesen – und ist doch nur ein (in vielleicht mehrfacher Hinsicht) ordinäres Popalbum, mit freilich sinister ausgeklügelten Dance- und Discosounds der avancierteren Art.

„Prag Techno“ wird etwa auf einer Verkaufsplattform als Referenz dafür angegeben – und man fragt sich, ob die tschechische Hauptstadt in der Zwischenzeit Berlin als Zentrum forcierter E-Beats abgelöst haben könnte. Jedenfalls bezieht sich der Hinweis auf brutalistische Technoclubs in Prag, wo FKA twigs einige Filmsequenzen drehte. Dass die als überirdisch-tantrisch verklärte Sinnlichkeit letztlich doch auch nur sehr herkömmlichen SM-Dar- und Vorstellungen entspricht, zeigt das Video zu dem Song „Perfect Stranger“ (in welchem uns die Künstlerin u.a. als devote Tischhalterin entgegentritt, nein, -kniet…).

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Offenes Glaubensbekenntnis

Als eine „Botschaft der Liebe und der Hoffnung“ will wiederum die als Amanda Koci in den USA (mit albanischen Wurzeln) geborene Sängerin, die man viel besser als Ava Max kennt, ihren neuen Song, „Lost Your Faith“, verstanden wissen, der mit deutlich herkömmlicheren Versatzstücken (als etwa FKA twigs) arbeitet. Aber interessant: Was etwa die genre-verwandte Dua Lipa bei mir persönlich fast nie erzielt, stellt sich bei Ava Max und ihren gezirkelt-böllerhaften Dancepopsongs fast immer ein: nämlich sattes Wohlgefallen.

Diesmal fährt (mir) der konventionell-hymnische „Halleluhja“-Refrain so nachhaltig ein, dass ich mehrere akustische Reinigungsrituale brauche, um ihn wieder los zu werden. Ähnlich wie bei der britischen Sängerin Marina (Diamandis, mit griechischen Wurzeln), an die mich Ava Max stark erinnert (immerhin hieß ihr zweites Album „Diamonds & Dancefloors“; etwa gar ein versteckter Hinweis?), erliege ich hier relativ simplen Popreflexen, ohne je mit der kritischen Wimper zu zucken.

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Cineastischer Drama-Pop

Ein Überwältigungskünstler ganz anderer Art ist der Kanadier Abel Tesfaye, besser und inzwischen weltbekannt als The Weeknd (wohin das fehlende „e“ verschwunden ist, bleibt interessant & aufmerksamkeitsfördernd rätselhaft), dessen Aufstieg von einem Club-Geheimtipp zum globalen Popstar erstaunlich rasch vonstatten ging. Nun liegt mit „Hurry Up Tomorrow“ bereits sein sechstes Studioalbum vor, das mit 22 Nummern, zahlreichen Gästen (u.a. Lana Del Rey, Florence + the Machine und – sic! – Giorgio Moroder) und über eineinhalb Stunden Laufzeit etwas gar (zu) üppig ausgefallen ist.

Cineastisch und mit viel Drama-Pop inszeniert ist „Open Heart“, der vielleicht eingängigste Track auf dieser Monsterplatte, obwohl bei dem Song auch der quälend überpräsente schwedische Produzent Max Martin seine Finger im Spiel hat. (Wie gesagt: Wenn schon Max, dann lieber Ava!)

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Weltmarktführer im Turbofolk

Auch auf Überwältigung hat es das heuer bereits in sein 20. Bestandsjahr gehende US-Folkduo The Lumineers angelegt, allerdings weniger mit Pomp und Max-M.-geschneiderten Sound-Maßanzügen, sondern mehr mittels Stimmpathos und Drive. Sänger Wesley Schultz (als Solist hätte sich vermutlich auch er einen anderen Namen zugelegt) nähert sich stimmlich (und auch im Aussehen) zunehmend Caleb Followill von den Kings Of Leon an. Und Jeremiah Fraites schlägt als Drummer dazu flotte Gangarten. Das reicht schon, um aus einem Song einen Good Old Song zu machen, auch wenn der, wie in diesem Fall – als Vorabsingle ihres kürzlich erschienen neuen Albums „Automatic“ –, „Same Old Song“ heißt, und sich so eindringlich in seinen Refrain verbeißt, als wolle sich der ewig im Kreise drehen (und man als Hörer gleich mit).

Nach dem nunmehr bereits langen Verstummen von Mumford and Sons (letztes Album 2018), ihren britischen Brüdern im Geiste (und vor allem im Klang), sind die Lumineers zurzeit wohl Weltmarktführer dieses auf Tempo, ostinate Schunkelsounds und vokale Beschwörung setzenden Turbofolks (und damit am 23. April in der Wiener Stadthalle live zu Gast).

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Abitur im Fach Zeitgeist

Auf mittlerweile bereits 32 Jahre und – seit Mitte Februar – 14 Alben haben es Tocotronic gebracht, und sind damit wohl der beständigste Jahrgang der Hamburger Schule, sozusagen ewige Sitzenbleiber. Dabei klingten sie eigentlich immer eher so, als legten sie Jahr für Jahr ein besonders ambitioniertes Abitur im Fach Zeitgeist ab.

Auf „Golden Years“, dem neuen Longplayer, sticht vor allem ein genuin politischer Song hervor. Mit „Denn sie wissen, was sie tun“ fügt die (nach dem Ausstieg von Gitarrist Rick McPhail) zum Trio geschrumpfte Band der Identitätsdebatte eine neue Facette bzw. Grundhaltung hinzu: „Diese Menschen sind gefährlich, sie sind gänzlich unverdreht / Sie leben völlig selbstverständlich, Fiesheit als Identität“, heißt es da. Und als Gegenrezept gegen derlei Gefährliche (von denen man weiß, wie man sie sich vorzustellen hat, nicht erst seit den Bundestagswahlen) empfiehlt Dirk Lotzow im üblichen, leicht blasierten Hochschülergesang folgende (Selbst-)Überwindung: „Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt / Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt“.

Wer macht den Anfang?

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Abgrundtief schöne Apathie

Wer einen wirklich überzeugenden politischen Aktivierungssong hören will, der ist beim aus Liberia stammenden, in Tennessee lebenden Sänger Mon Rovia (der Name, der sich auf die Hauptstadt seines afrikanischen Heimatlandes bezieht, ist natürlich auch ein Alias) besser aufgehoben, viel besser. „Winter Wash 24“, einer von vier Songs seiner Anfang Jänner erschienenen EP „Act 4: Atonement“, thematisiert die grassierende Apathie („The cognitive dissonance we feel in the west; witnessing the horrors on our phones, stuck feeling helpless in any of our efforts. So apathy grows”) und tröstet dabei mit derart zarten, abgrundtief schönen Klängen, wie man sie vielleicht seit Sufjan Stevens Liederzyklus „Carrie & Lowell“ (2015) nicht mehr gehört hat.

Jemand hat zum YouTube-Video des Songs das hier gepostet: „My daughter passed away in 2016. Ever since I’ve had to battle depression. For a long time I didn’t want to be here anymore (…) Listening to your music, just feel love from it. I appreciate that so much.“ Dem ist nun wahrlich nichts mehr hinzuzufügen.

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Hinweis: In beigefügter (Spotify-)Playlist sind neben den hier besprochenen Songs noch einige weitere enthalten, die wir in anderen Zusammenhängen auf dieser Plattform heuer schon erwähnt (und besprochen) haben (wie z.B. Wallners, Franz Ferdinand, Anna B. Savage oder Circa Waves).

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