Die Algorithmen in unserem Blut

Den Zyklus des Lebens und die Weitergabe familiärer Defekte beschreibt der individualistische britische Songwriter Richard Dawson in seinem famosen, ungewöhnlich zugänglichen Album „End Of Middle“.

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18. Feber 2025

Richard Dawson, häuslich (Heimwerkerkluft!) © Sally Pilkington

In der Formatradio-Terminologie würde man, was seine Musik auslöst, Abschaltimpulse oder Durchhörbarkeitsbeeinträchtigungen nennen. Und für die Generation TikTok geht einer wie er, der mit angegrautem Bart, hohem Haaransatz, Nickelbrille und ansehnlicher Leibesfülle ungefähr das Gegenteil von Juvenilität und „Selbstoptimierung“ repräsentiert, gar nicht.

Seinen Hörern mutet er als Einstieg in eine LP schon einmal einen Koloss von 41 Minuten Länge zu, wie etwa auf seinem letzten Album „The Ruby Cord“ (2022) den Opener „The Hermit“. Inhaltlich sind seine Werke meist konzeptionell gerahmt; auf seiner 2021 mit der LP „Henki“ dokumentierten Kooperation mit der finnischen Experimental-Rock-Band Circle ist das Thema das (Er-)Leben eines Samenkorns. Diese Platte mit ihren ausschweifenden Rock-Exkursionen zeigt auch, dass selbst weitläufige stilistische Zuschreibungen wie „Experimental-Folk“ oder gar „Freak-Folk“ bei Richard Dawson buchstäblich zu kurz kommen.

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Und obendrein verweigert sich seine eigentümlich spröde, scheinbar latent an der Grenze zur Dissonanz angesiedelte Melodieführung einer friktionsfreien Verbrüderung mit dem Harmoniebedürfnis potentieller Hörerschaften.

Gemessen an alledem genießt der 44-jährige, von Kindheit an in Newcastle ansässige Richard Dawson erstaunlich viel Verständnis – besser gesagt: Verstehen – und Anerkennung von Insidern und Kritikern. „Britain’s best, most humane songwriter“ und „Britain’s best modern-day folk singer“ hat ihn der „Guardian“ zu verschiedenen Gelegenheiten schon genannt.

Die Klarinette als irrlichternder Blitz

Mit seiner achten LP gibt sich der Künstler nun ungewohnt zugänglich. Drei, vier Songs sind selbst im landläufigen Sinn als wunderschön zu bezeichnen, und auch die Arrangements überfordern Normalkonsumenten nicht unmenschlich. Ausgenommen vielleicht die eine oder andere auffällige Einlage der Klarinette: die bekleidet nämlich auf der Platte dramaturgisch die Rolle eines irrlichternden Blitzes – dessen rabiaten Einschlag in ein Familienhaus gleich der erste Song „Bolt“ beschreibt.

Richard Dawson: End Of Middle (Domino)

Grundsätzlich indes ist „End Of The Middle“, wie das Album heißt, in Gangart und Dynamik ziemlich zurückgenommen. Seiner eigenen Aussage zufolge wollte Dawson, dass alles schwächlich, wackelig klingt, „wie ein neugeborenes Fohlen, das versucht, auf die Beine zu kommen“.

Beim Schlagzeug zum Beispiel sollten die Trommeln kaum berührt werden, auch die Gitarren und selbst der Gesang sollten äußerste Zurückhaltung üben.
Ganz spielt’s das zwar nicht: Dawsons kehlige, ein wenig an den (ihm auch in seiner künstlerischen Freigeistigkeit weitschichtig verwandten) englischen Experimental- und Progressive-Pop-Musiker Robert Wyatt erinnernde Stimme zuckt dann doch immer mal wieder aus, und von wackelig kann bei seinem formidablen, behände-vielseitigen Gitarrenspiel keine Rede sein.

Was allerdings erreicht werden sollte, nämlich die Exposition des Songwritings und die Kreation einer besonders reklusiven Atmosphäre, das schafft die sparsame Produktion von Dawson und Sam Grant (der als Musiker vom Metal kommt!) sehr wohl.

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Der Impetus, möglichst private Musik, gewissermaßen Hausmusik (oder Stubenmusik) zu kreieren, ist dem Thema des Albums geschuldet: eine Familiengeschichte über vier Generationen. Wobei es Dawson zufolge nicht einmal besonders wichtig ist, ob es sich um vier Generationen derselben oder verschiedener Familien handelt – entscheidend ist, zu zeigen, wie sich Verhaltensweisen wiederholen und wie dieser scheinbar schicksalhaft in uns angelegten Neigung zur Reproduktion familiärer Defekte Einhalt geboten werden kann.
Dawson kleidet diese Frage in eine recht hübsche Formulierung: „Wie durchbrechen wir die Algorithmen, die in unserem Blut zirkulieren?

Die Antwort darauf wird gar nicht laut ausgesprochen, sie ist vielmehr den neun vitalen Szenarien – die deutlich erkennbar Lebensstationen verschiedener Menschen schildern, aber Episode um Episode zu einer kohärenten biographischen Fiktion zusammenfinden – implizit: gar nicht.

Nun ja, ein Held der Generation TikTok wird aus Richard Dawson in diesem Leben wohl nicht mehr. © Sally Pilkington

Wie hier Lebensabschnitte und Ereignisse – Kindheit/Jugend, Schule, Weihnachten, Krankheiten, Feiern (wie in dem Fall einer Hochzeit), Geburt eigener Kinder, Umzüge, die Freizeit mit Gärtnern und am Ende unweigerlich der Tod kommen und vorüberziehen – das verweist auf die Wiederkehr des ewig Gleichen.
Erst recht Begebenheiten, die das zentrale Thema, also das Weiterleben unvorteilhafter Familienmerkmale über Generationen hinweg, stärker in den Fokus nehmen wie die Geschichte eines Mannes, der sich als Schüler gerne handgreiflich mit anderen Buben angelegt hat und nun in die Schule gerufen wird, weil sein Sohn einem Mitschüler den Kiefer gebrochen hat.

Viel aufbauende Energie

Dawson erzählt, zumeist ungereimt, mit Engagement und Verve, ohne dabei je zu werten, geschweige denn zu verurteilen. Selbst unerfreuliche Begebenheiten wie der Jobverlust und Verfall eines Familienvaters in Alkoholismus oder die Geschichte einer alten Frau, die nie eine Chance hatte, aus der tristen Spur ihres vorgezeichnet ereignislosen Lebenswegs auszubrechen, geraten ihm nicht zu traniger Sozialkolportage.

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Dass sich in „End Of the Middle“ viel aufbauende Energie zusammenballt, ist tatsächlich der eingangs erwähnten, bisweilen koboldhaft herumwieselnden, dann wieder manisch aufbrausenden Klarinette der famosen Faye MacCalman geschuldet. Die andere Quelle steuert Dawson bei, indem er behutsam akzentuiert, Intensität aufbaut oder wie in „Boxing Day Sales“, einer Geschichte über (vor)weihnachtlichen Einkaufsrausch, mit einem Wunder von einer Melodie auffährt. Es braucht nicht notwendigerweise eine Materialschlacht für ein großes Stück Individualismus.

 

 

Richard Dawson, häuslich (Heimwerkerkluft!) © Sally Pilkington

Dawson wollte, dass seine neue Platte schwächlich klingt. Das spielt´s nicht (zum Glück).