„Es war das Uncoolste überhaupt…“

Eine Erinnerung an Greg Sage und seine Band Wipers - mit Auszügen eines Interviews von 1993

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9. August 2024

Greg Sage (ca 1991): „Leute sagten zu dir, ,du siehst aus wie ein Holzfäller!‘" (Foto: Restless Records)

The Sex Pistols. The Clash. The Damned. The Adverts. Punk britischer Provenienz ist klar definiert und codiert: Er tritt auf mit Stachelfrisuren, Leder- und Fetzenlook und aggressivem, herausforderndem Gehabe; seine musikalische Reichweite ist rigoros beschränkt – Stichwort 3 Akkorde.
Punk aus den USA stellte sich weit weniger plakativ dar. Obwohl praktisch alle nennenswerten Vorläufer und Wegbereiter aus dem Land kamen – von den Garagen-Rock-Bands der 60er Jahre über die Stooges, MC5 und Velvet Underground bis zu Television – ist Punk in den USA nur in wenigen Fällen (Ramones) groß inszeniert worden. Wenn man Richard Melvin Hall, der als Gitarrist einer Punk-Band angefangen hat und als Moby mit Techno- und eklektischen Mainstream-Pop und ein bisschen Ambient-Edelkitsch Millionen Platten verkauft hat, fragt, spielte Image im US-Punk auch nie eine herausragende Rolle: „Es fühlt sich komisch an, wenn ich Leute von ,echtem Punk‘ reden höre“, sagte Moby, dessen musikalische Sozialisation auf dem 1996 erschienenen Hardcore-Album „Animal Rights“ buchstäblich laut und deutlich zu hören ist, 2001 zum Autor dieser Zeilen. „Das ist in Europa wahrscheinlich anders als in Amerika. Als ich aufwuchs, spielte ich wie auch meine Freunde in Punk- oder Hardcore-Bands und wir waren ziemlich ,normal‘. Das Einzige, was Bands wie Minor Threat, die Circle Jerks und andere Punk- und Hardcore-Bands verband: Sie hatten kurze Haare. Aber mit diesem Bild britischer Punks mit ihren Lederjacken und Irokesen, die Bierflaschen durch Fenster warfen, hatte Punk in den USA nichts gemein. Eine Band wie Bad Religion, die es seit 1981 gibt und die aus ganz normalen Leuten besteht, von denen einer sogar Lehrer ist, entspricht weit eher dem amerikanischen Hardcore-/Punk-Ideal.“

In diesem Sinn kann Greg Sage, 1951 in Portland, Oregon geboren und dort auch aufgewachsen, als eine Art Prototyp des amerikanischen Punk gelten: Er hat mit seiner Band Wipers (ohne „The“) und Alben wie „Is This Real?“ (1980), „Youth Of America“ (1981) oder „Over The Edge“ (1983) Maßstäbe gesetzt und sich nicht nur durch die Missachtung einschlägiger Dress- und Stylingcodes über vermeintlich verbindliche Regeln des Genres hinweggesetzt. Er hat vorgeführt, dass Aggression, Wut, Sarkasmus und Frustration nicht natürliche Feinde der Intelligenz sein müssen und sich sogar durchaus auch mit avancierter Spieltechnik vertragen. Das wiederum ermöglichte stilistische Zu- und Übergriffe seines treibenden, hochenergetischen, latent Rockabilly-beeinflussten Punkrocks auf Hardrock und etwas später auch Psychedelia – ungefähr die selbe musikalische Gemengelage also, auf der rund eine Dekade später Grunge aufbaute. Dass Sage dann mit gebührender Ehrfurcht zum „Wegbereiter des Grunge“ ausgerufen und sogar durch ein Tributalbum mit Deutungen seiner Songs durch Größen wie Thurston Moore, Nirwana, Hole, Napalm Beach u.a. geadelt wurde, verdankt er im Speziellen Vorbildreferenzen seitens Kurt Cobains, grundsätzlich aber seiner coolen Gelassenheit gegenüber Tagesmoden.

Gegen den Trend der Zeit

„Als Punk 1978, 79 groß in den Staaten war“, erinnerte sich Sage 1993 – also just am Höhepunkt der Grunge-Ära – im Interview mit dem Autor, „musstest du aus L.A. oder New York kommen, um cool zu sein. Jemanden aus Portland hat man ausgelacht. Und du musstest einen schwarzen Ledermantel und Stiefel tragen und mit Ketten behängt sein. Ich trug Flanellhemden! Das war bis ungefähr 1985 das Uncoolste, was du tragen konntest. Leute sagten zu dir, ,du siehst aus wie ein Holzfäller!‘ Das war, wiewohl wir definitiv Teil der Punk-Szene waren, zu dieser Zeit so was von Anti-Punk, dass es bei vielen echte Aggressionen hervorrief. Zehn Jahre später hieß es, ich hätte Grunge gestartet, weil ich Flanellhemden trug und Leute sagten: Du bist ein Held, ein Trendsetter! Wir haben auch musikalisch Dinge gemacht, von denen wir wussten, dass sie ganz gegen den Trend der Zeit gingen: Auf ,Youth Of America‘ hatten wir zwei sehr lange Stücke. Auch das galt damals für Punk als unmöglich.“

Bruch mit einer Tradition. Vorsätzlich gegen den Trend agieren. Kommerzieller Selbstmord. Das sind Formeln, die Greg Sage wiederholt ins Gespräch bringt. Wenn denn ein solches zustandekommt.
Interviews waren, damals wie heute, nie Sages Lieblingsbeschäftigung.
Hartnäckigkeit und ein entgegenkommender Tourbegleiter machten es möglich, dass wir uns 1993 einen Tag nach einem Konzert der Wipers in der Szene Wien im Hotel Wimberger am Gürtel gegenübersaßen.
Zunächst schienen sich alle Gerüchte, die besagten, Sage interviewen zu wollen, könne nur ein Desaster ergeben, zu bestätigen. Bei der Begrüßung stierte Sage, durch dessen Gesicht sich zentimetertiefe Falten zogen und unter dessen Kopftuch in unregelmäßigen Abständen und Längen friedhofsblonde Haarsträhnen hervorschauten, ausdruckslos ins Leere, beim Shakehands schien er ein Loch in meine Schulter zu starren. Als ich das Band einschalten wollte, ertönte ein gebieterisches „Stop! Worüber soll dieses Interview sein?“
„Über die Musik natürlich.“
„Dann ist es okay.“ Fast entschuldigend fügte Sage hinzu: „Du musst verstehen, zu mir kommen immer wieder Leute, die nach meiner Lieblingsfarbe fragen oder welches Bier ich trinke.“
Ab da schien der Musiker wie ausgewechselt – klar und präzise in den Antworten, entgegenkommend auch auf potentiell kritische Fragen eingehend. Aus den „maximal 20 Minuten“ Gesprächsdauer, die der Tourbegleiter in Aussicht gestellt hatte, wurde eine Dreiviertelstunde.

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Für Greg Sage ist „Independent“ viel mehr als nur eine Schublade oder gar ein dekoratives Schlagwort. „Mir ist meine Unabhängigkeit wichtiger als andere es auch nur behaupten“, erklärte er.
Im Prinzip kann die ganze, annähernd drei Jahrzehnte von den frühen 1980ern bis zur Milleniumswende umspannende Karriere des Greg Sage als Kampf um seine künstlerische und persönliche Integrität verstanden werden. Und die war nicht immer leicht zu verteidigen. „Vor fünf, sechs Jahren“, rekapitulierte er, „war es wirklich cool, Independent zu sein. Heute glauben Leute, mit dir stimmt was nicht, weil du es nicht zu einem Major ,geschafft‘ hast. Ich wurde schon von jedem Major kontaktiert, und ich sah bei einigen die Kinnlade auf den Boden fallen, weil sie es nicht gewohnt sind, dass jemand nein zu ihnen sagt.“

Nie Videos gemacht

Nicht alles freilich konnte er durchziehen, wie er es sich vorgestellt hatte. Ursprünglich wollte er nämlich komplett anonym ohne Promotion, Live-Auftritte, sogar ohne Namen agieren – mit dem einzigen Ziel, in 10 Jahren 15 Platten herauszubringen.
„Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass das nicht geht. Denn: An bestimmten Punkten musst du mit der Plattenindustrie arbeiten. Es gibt Leute, die dich wirklich sehen wollen, und es ist schwer, die ganze Zeit nein zu sagen. Wenn du keine Kompromisse eingehst, machen dich die Plattenfirmen platt.
Aber ich habe nie Videos gemacht – da habe ich die Grenze gezogen. Wenn ich berühmt sein, im Blickpunkt des öffentlichen Auges stehen wollte, hätte ich Videos gemacht. Und überhaupt eine Menge Dinge anders.“

Mit den 15 Platten in 10 Jahren war es schon allein deshalb Essig, weil Sage sämtliche LPs selbst finanziert hat, damit ihm niemand dreinreden konnte. „Wenn du Geld von einem Label nimmst, um etwas aufzunehmen und sie sind mit dem Ergebnis nicht einverstanden, wie das mit Nirvana, mit Neil Young, mit vielen passiert ist, hast du keine künstlerische Freiheit. Daher finanziere ich die Platten selbst und das ist sehr teuer. Deshalb hat es mit Platten bei uns immer so lange gedauert.“
Und so sind es statt der 15 in 10 Jahren 11 Alben in knapp 30 Jahren – 9 LPs der Wipers, 2 von GS solo – geworden. Ob ein Album als Produkt der Band oder als Alleingang ihres Leaders deklariert wurde, machte, was die Musik anging, keinen Unterschied. Die Wipers waren, auch wenn sie sich auf zwei Plattencovers scheinbar demokratisch als Trio präsentieren, nie als Band gedacht und auf allen Platten dominiert Sage als alleiniger Songschreiber, Sänger und Gitarrist, der oft auch den Bass übernimmt und, wo notwendig, auch die Tasten drückt. Veröffentlichungen unter eigenem Namen stellten für Sage einfach eine zusätzliche Möglichkeit dar, Geld für eine Platte lockerzumachen oder ein Label zu finden, mit dem er nach seinen Vorstellungen zusammenarbeiten konnte.

Die frühen Werke

1980 ist das Wipers-Debüt „Is this Real?“ erschienen. 2020 hat es, wie es sich gehört, eine von Sage autorisierte 40-Anniversary-Neuauflage auf durchsichtigem Vinyl erfahren; das unvermeidliche Bonus-Material besteht in den ursprünglichen Session-Versionen von „Mystery“, „Tragedy“, „Let’s Go“ und „Is This Real?“.

Gilt allgemein als Meisterwerk: „Youth Of America“ (1981) Foto: Zeno Rec.

Während der Erstling aus kurzen, schnellen Stücken besteht, hat sich beim Nachfolger „Youth Of America“ die Anmutung der Musik signifikant verändert. Die LP enthält nur sechs Stücke, weil allein der Titelsong über 10 Minuten dauert. Und wie dessen Titel suggeriert, geht es hier nicht mehr um Wahrnehmungsverzerrungen und persönliche Probleme, als deren Widerhall man die Inhalte von „Is This Real?“ (mit allerdings nur bedingter Berechtigung) verstehen könnte, sondern um nicht weniger als den Zustand der Gesellschaft. Pitchfork sieht darin sogar eine frühe Reflexion der Reagan-Ära – und von der Hand zu weisen ist das beileibe nicht, denn ein Sensorium für die damals beginnenden – regierungsseitig forcierten – Ungleichheiten in der Wohlstandsverteilung in den USA lässt die Platte deutlich erkennen: „The rich get richer and the poor get poorer“, heißt es da etwa; an anderer Stelle macht sich ein gequältes „it’s no fair!“ schreiend Luft.
Auf eine der ersten zwei Platten fällt üblicherweise die Wahl zum besten Wipers-Album, wobei heute meist „Youth Of America“ (noch) höher eingeschätzt wird: Eine Platte, die vor Energie fast zu bersten scheint, dabei nicht nur stilistische Grenzen überschreitet, sondern mehrfach auch die des herkömmlichen Songformats auslotet. Sages Stimme klingt atemlos und gepresst, als würde alle Empörung, Wut, Fassungslosigkeit durch zusammengebissene Zähne herausgedrückt. Und dazu DIESE Gitarre! Wenn Sage in die Saiten greift, gibt es Brösel. Feedbackschleifen scheinen sich aus seriellen Läufen selbstständig zu machen; Töne zersplittern in unendliche viele Bestandteile und schwirren herrenlos um die Songs herum, und zusammengehalten wird das Ganze von Riffs und Leitmotiven, die sich bleischwer durch die harsche Klanglandschaft fräsen oder aber mit behender Leichthändigkeit durch die Luft jagen.

Zunehmend melancholisch

Sages eigener Favorit in seinem Ouevre ist laut einer Geschichte, die der „Rolling Stone“ 2020 zur Neuauflage von „Is This Real?“ gemacht hat, das 1987 veröffentlichte „Follow Blind“. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Musik bereits austariert: Die Gitarre klang noch immer wie ein Schneidbrenner, aber Sages relativ hohe Stimme kanalisierte sich nun, Worte lang ziehend wie einen Strudelteig, in einem unaufgeregtem Fluss, aus dem vermehrt Melancholie strömte.

Greg Sage 1986. Foto: Zeno Records

Greg Sage 1986. Foto: Zeno Rec.

Die einzelnen Platten unterscheiden sich hauptsächlich durch unterschiedliche Dynamik-Niveaus. „Follow Blind“ ist ebenso wie „Silver Sails“ von 1993 und das zwei Jahre zuvor als Solo-Album erschienene „Sacrifice For Love“ zurückgenommen, während die beiden letzten regulären LPs „The Herd“ (1996) und „Power in One“ (1999) noch einmal ordentlich Druck aufbauen.
Schon seit den späten 80er Jahren lebt Sage in Arizona. Dort fertigte er als erste künstlerische Tat „Sacrifice For Love“, ein sehr ansehnliches Stück Sehnsuchts-Pop. „Als ich nach Arizona zog, fragten mich Leute, ,was machst du dort? Dort ist doch nichts!‘ Weil es zu dieser Zeit so uncool war, wollte ich dezidiert eine Platte machen, die nach Arizona klang.“
Das geschah dann allerdings unter sehr speziellen Umständen. „Als ich ,Sacrifice For Love‘ machte, lebte ich schon drei Jahre in Arizona. Und in diesen drei Jahren konnte ich kein Gebäude finden, in das man ein Studio reinbauen konnte. So habe ich am Ende in einer kleinen Wohnung, um die herum 3.000 Leute gelebt haben, aufgenommen. Dort konnte ich natürlich keine Verstärker verwenden und keine Drums aufnehmen. Daher machte ich alles direkt über Kopfhörer und verwendete Fake-Drums. Jetzt mag nicht die größte Platte dabei herausgekommen sein“- Einspruch: Sie IST groß – „aber für mich war’s angesichts der Limitationen, unter denen sie entstanden ist, eine echte Errungenschaft.“

Nachlasspflege

Heute verwaltet und pflegt Sage das Erbe der Wipers über sein eigenes Label Zeno Records. Reich ist er mit seiner Kompromisslosigkeit als Künstler natürlich nicht geworden, hat aber Wege und Möglichkeiten gefunden, seine Rechnungen zu bezahlen. „Ich brauche keine Statussymbole; es ist okay für mich, bescheiden zu leben. Es ist so: Independent zu sein, hat seine Limitationen. Bei einem Major zu sein, hat ebenfalls seine Limitationen, denn eigentlich machst du nicht viel mehr Geld, wenn du bei einem bist. Selbst wenn du für Millionen unterschrieben hast, heißt das nicht, dass du dieses Geld auch selbst kriegst. Du kriegst es für tour support, du kriegst es für Videos, du kriegst es für Promotion, aber es landet letztlich nicht in deiner Tasche.“

Greg Sage (ca 1991): „Leute sagten zu dir, ,du siehst aus wie ein Holzfäller!‘" (Foto: Restless Records)

„ Als Punk 1978, 79 groß in den Staaten war, musstest einen schwarzen Ledermantel und Stiefel tragen und mit Ketten behängt sein. Ich trug Flanellhemden! Leute sagten ,du siehst aus wie ein Holzfäller!‘ Zehn Jahre später hieß es, ich hätte Grunge gestartet, weil ich Flanellhemden trug."