Flott auch mit ein paar Kilo mehr
… zeigen sich The Libertines auf ihrem neuen Album „All Quiet on the Eastern Esplanade".
Man muss ganz gewiss Menschen verstehen, in denen sich eine handfeste Aversion gegen Pete Doherty aufgebaut hat. In den Nuller- und noch frühen Zehner-Jahren reichte dafür in ganz Europa – in den USA hat Doherty kaum wen interessiert – ein beiläufiger Blick in irgendein Revolverblatt: Überall stierte einem – ob nun allein oder in Begleitung von Dürre-Model Kate Moss, zu der der Terminus „Heroin-Chic“ in mehrerlei Hinsicht passt – der Kerl mit dem ungesund-teigigen Gesicht und dem typisch verfallenen Giftler-Gebiss entgegen. Und diese dämlichen Geschichten: Den Freund und Bandkumpel bestohlen! Mit einem Packl Heroin in der Jackentasche bei Gericht aufgekreuzt! Das ihm dann auch noch prompt rausgefallen ist! In Regensburg – ausgerechnet! – nächtens in einen Gitarrenladen eingebrochen! Von den anderen Sachen – den vielen geschmissenen Auftritten, seiner angeblichen Affäre mit Amy Winehouse – reden wir erst gar nicht.
Trügerische öffentliche Wahrnehmung
Es gab neben dem David Bowie der Glam-Rock-Ära nie einen Musiker, bei dem eine dermaßen tiefe Kluft zwischen (trivialer, zugespitzter) öffentlicher Wahrnehmung und künstlerischer Substanz klaffte wie bei Pete Doherty, der letzten Monat 45 geworden ist und dieses Jubiläum sogar erlebt hat. Denn seinem Image als Skandalnudel steht ein Künstler von hohem Bildungsniveau entgegen, ein Musiker, der mit Stimme und Gitarre eine scharfe Kante erzeugen und bittere Geschichten über die Menschen erzählen kann, denen sein Heimatland England bei der Schicksalsverteilung nicht die besten Karten zugespielt hat. Der im Übrigen auch nicht verstehen kann und will, wie das zusammenpasst: stolz zu sein, die Nazis besiegt zu haben und gegen Schwule und Schwarze zu hetzen.
Angespannter Sound
Ende der Neunziger Jahre waren die Libertines in London von Doherty und Carl Barât, seinem kongenialen Widerpart als Sänger, Gitarrist und Songschreiber, gegründet worden. Weil ihre Plattenkarriere, die 2002 mit dem Album „Up the Bracket“ beginnt, ungefähr parallel zur großen Zeit von Bands wie The Strokes, The Hives oder The Vines verlief, wurden auch die Libertines in die Schublade der Retro-Punk-Bands gesteckt.
Doch da war ein entscheidender Unterschied: Hinter dem, was hier, heruntergebrettert mit einem Furor, der sich keine Sekunde lang um „Attitude“ bemühen musste, in die Vergangenheit weisen mochte, war eine Sehnsucht nach der großen Emotion, dem großen Gefühl, das sich nicht genieren wollte für seine Purität. Dass diese weder mit der gesellschaftlichen Realität im UK noch mit der Verfasstheit einer nach dem Ende von Grunge ausgebrannten, großer Leitbilder entledigten Rock-Szene zusammenpasste, gab dem sperrigen, von Punk-Legende Mick Jones (The Clash) produzierten Sound der Libertines seine spezielle, fast schizophrene Spannung.
Frühes Ende der ersten Karriere
Weil indessen Doherty immer stärker in den Drogensumpf abtauchte und auch der gutaussehende Barât sich keineswegs als Kind von Traurigkeit gerierte, war die erste Karriere der Libertines schon nach dem zweiten, unbetitelten, verschiedentlich als epochal eingestuften Album von 2004 zu Ende.
Doherty gründete danach die gleichermaßen famosen, stilistisch noch etwas vielfältigeren Babyshambles und machte sich, schrittweise dem Heroin entsagend und dafür ein (vielleicht gereifter anmutendes) „r“ am Ende seines Vornamens beanspruchend, selbstständig. Barât gründete u.a. die Garagen-Rock-Formation Dirty Pretty Things, verdingte sich in verschiedenen losen Band-Konstellationen und profilierte sich dann ebenfalls als Solist.
Ein Comeback, das seine Zeit brauchte
2014 fanden beide für ein im Herbst des Folgejahres veröffentlichtes, freundlich, aber nicht enthusiastisch aufgenommenes Libertines-Reunion-Album, „Anthems For Doomed Youth“, wieder zusammen. Aber erst mit dem neuen, vierten Longplayer, „All Quiet on the Eastern Esplanade“, unterstreichen ein gewaltig in die Breite gegangener Peter Doherty und ein immer noch gut erhaltener Carl Barât, dass sie es richtig ernst meinen. In Interviews betonen sie insbesondere das Teamwork und tragen dieser Prämisse auch formal Rechnung: für sämtliche 11 Songs zeichnen alle vier Akteure – neben den beiden Protagonisten sind das Bassist John Hassall und Schlagzeuger Gary Powell – als Autoren verantwortlich.
Naturgemäß kann das Album – trotz des recht flotten Auftakts mit „Run, Run, Run“ – nicht mit der Wildheit der frühen Werke mithalten. Animiert und darum stellenweise mitreißend klingt „All Quiet on the Eastern Esplanade“ aber allemal: Überhaupt noch da zu sein, um in alter Konstellation wieder zusammenspielen zu können/dürfen – das wird mit spür- und hörbarer Spielfreude zelebriert. Weil der melodische Schliff raffiniert wurde, ist auch die öfters angezogene Handbremse zu verschmerzen.
Dass sich die Texte viel mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen, ist klar. Aber auch ein karrierelanges Thema des heute mit Familie und Hund in Frankreich lebenden Doherty, nämlich sein Herkunftsland, ist wieder prominent in den Inhalten vertreten. Räsoniert wird etwa, wie sich „Merry Old England“ – so der Titel eines schönen, kontrolliert beschwingten und temperiert gesungenen Songs – für Migranten und Flüchtlinge darstellen mag: „Oh my, my, my, my good luck on staying alive / hope they don’t catch you tonight“.
Live am 30.6. in Linz bei Lido Sounds
Noch da zu sein, um wieder zusammenspielen zu können/dürfen - das wird mit spür- und hörbarer Spielfreude zelebriert.