Future Soul
Seit Jahren begeistert das australische Quartett Hiatus Kaiyote mit einem abenteuerlichen Mix aus Jazz, Soul und Poly-Rhythmen. Ihr heuer erschienenes viertes Album „Love Heart Cheat Code" öffnet sich auch dem Rock.
Es gibt Fragen, die Musiker nicht übertrieben gern hören. „Wo würdet Ihr eure Musik einordnen?“ ist eine solche. Gerne bekommt man dann ein widerwilliges „Das ist doch Ihr Job!“ oder „Wir wollen uns nicht in Schubladen pressen lassen!“ zur Antwort.
Nicht so bei Hiatus Kaiyote: Die etikettierten sich, als sie mit ihrem Debüt-Album „Tawk Tomahawk“ (2012) alsgleich die prominente Aufmerksamkeit von Kollegen wie Dirty Projectors, Animal Collective oder Prince fanden, flugs als „Future Soul“.
Future Soul mit dem Wort „Zukunft“ als Begriffsbestandteil ist allerdings ein nicht ungern genutzter Identitätsausweis. Es ist auch weniger eine unmittelbare Stilbezeichnung als dass es eher einen Anspruch auf Anders-, womöglich gar Neuartigkeit reklamiert.
Ein paar vage stilistische Determinanten kennt der Begriff Future Soul schon: In den 2010er Jahren aufgekommen, steht er für einen eklektischen Fusion-Mix, in dem Soul und sein kontemporärer Abkömmling R&B auf HipHop, Funk, Dubstep, Rock, elektronische Musik und Jazz treffen. Je nach individueller Ausrichtung der Acts variiert die Gewichtung der Stile.
Wie ein Stromkreislauf
Bei Hiatus Kaiyote ist dem Jazz ein ziemlich prominenter Stellenwert eingeräumt. Insofern verbindet das im Kern vierköpfige australische Ensemble, dessen Namen man nicht auf die Goldwaage legen muss („Kaiyote“ bedeutet genau gar nichts), unter anderem eine – vermutlich unbewusste – Geistesverwandtschaft mit ebenfalls jazzaffinen britischen Experimental-Acts wie Black Country, New Road oder Black Midi.
Neben dem Jazz und Soul/R&B prägen insbesondere rhythmische Variationen die Musik von Hiatus Kaiyote. Tribal Rhythms, Swing und Drum & Bass können da in ein- und demselben Song ineinandergreifen.
Auf ihrem vierten Album „Love Heart Cheat Code“, das Hiatus Kaiyote irgendwann im Sommer dieses Jahres veröffentlicht haben, sind stärkere Einflüsse aus dem Rock zu bemerken, aber auch der burlesken Behändigkeit gewisser Werke von Frank Zappas Mothers Of Invention (z.B. „The Grand Wazoo“). Womit wir auf Umwegen wieder beim Jazz wären.
Bei Hiatus Kaiyote können die Vektoren nach vorne weisen, aber ein paar Anschlüsse doch wieder in der Vergangenheit andocken. Man kann sich das vielleicht wie einen Strom-Kreislauf vorstellen.
Hiatus Kaiyote bestehen aus Sängerin und Gelegenheits-Gitarristin Naomi Saalfield alias Nai Palm – sie ist wohl auch das kreative Zentrum der Band (deren Songwriter-Credits kollektiv ausgewiesen sind) -, Bassist und Gitarrist Paul Bender, Keyboarder Simon Mavin und Schlagzeuger Perrin Moss. Sie haben bereits zwei Grammy-Nominierungen zu Buche stehen – und sie sind eine der beliebtesten Sampling-Quellen für die aktuelle R&B- und HipHop-Szene: The Carters (Beyoncé & Jay-Z als Familienunternehmen), Drake, Kendrick Lamar und Anderson Paak zählen zu den Künstlern, die gerne auf (Bruch-)Stücke ihrer Musik zurückgegriffen haben.
Mit ihrem 2021 veröffentlichten dritten Album, „Mood Valiant“, haben Hiatus Kaiyote nicht nur ihr bis dahin bestes, sondern auch erfolgreichstes Album veröffentlicht: Zu Hause in Australien erreichte es Platz 4 der LP-Charts (#30 in Deutschland, #54 im UK und #103 in den USA). Bei den Grammy-Awards 2022 fuhr es eine Nominierung als „Best Progressive R&B Album“ ein.
Was die die Breitenwirkung angeht, kann das 2024-Modell nicht ganz mit dem Vorgänger mithalten. Statt #4 erreichte „Love Heart Cheat Code“ in Australien #40 und notierte weder in den USA, noch Deutschland und dem UK in den regulären Charts.
Die Musik aber ist weiter gewachsen – und zwar gleichermaßen in die Tiefe wie in die Weite: hat an Muskelmasse zugelegt, an stilistischer Variabilität und Nuancenreichtum gewonnen. Dazu lauern an jeder Ecke unvermutete, manchmal wie Späße, manchmal wie Überfälle anmutende Einschübe – eine manische Gitarrenattacke hier, einzelgängerische (sprich: sehr kurze) Streichereinsätze da; dort schräge Stimm-Einlagen, Rhythmusblitze, Katzen-Miauen und komprimierte Collagen aus ungefähr allem, was Lärm machen kann.
Die solchermaßen aufgebaute Spannung entlädt sich am Ende in einer einigermaßen verrückten Coverversion von Jefferson Airplanes „White Rabbit“, die Palm nach eigener Aussage bewusst hässlich angelegt hat: „Es ist ein politischer Song, und es ist auch ein Drogen-Song. Aber die meisten fallen, wenn sie das covern, zurück in dieses alte Psychedelia-Ding. Hier geht es darum, wie Psychedelia heute, da wir neue Drogen und neue Kriege haben, aussieht“, sagt sie dazu im australischen Rolling Stone.
Selbstermächtigung
Die Texte sind vielfach Plädoyers für Selbstermächtigung, Zusammenhalt und Toleranz; im Titelsong wird die fraglos nicht wirklich neue, höchstens so etwas ungewöhnlich formulierte Option untersucht, das Böse auf der Welt durch Liebe zu sabotieren.
Ein paar kulturgeschichtliche Referenzen müssen auch sein: Die Zeilen „Space is the place / yeah yeah yeah yeah“ in „Telescope“, das musikalisch wiederum kurz den Temptations-Hit „My Girl“ anzitiert, stammen direkt vom experimentell-avantgardistischen Jazzmusiker Sun Ra. „Dimitri“ bezieht sich auf eine (nicht gesicherte) Geschichte/Legende um den großen russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch, den angeblich Splitter eines deutschen Schrapnells im Hirn atonale Melodien hören ließen, wenn er den Kopf drehte. Hiatus Kaiyote machen daraus ein Hohelied auf den künstlerischen Schöpfungsakt, der von den unmöglichsten Impulsen angestoßen werden kann und das Unmögliche will – „tryin‘ to hold onto the intangible“.
Die Musik aber ist weiter gewachsen - und zwar gleichermaßen in die Tiefe wie in die Weite.