Geister im Walde

Xmal Deutschland-Frontfrau Anja Huwe veröffentlicht nach langer musikalischer Pause ihr Solo-Debüt „Codes"

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14. März 2024
Anja Huwe

Anja Huwe: Codes (Sacred Bones)

Es ist heute etwas unklar, was unter dem Begriff NDW – Neue Deutsche Welle – zu verstehen ist: Meint man die regionale Adaption der angloamerikanischen New Wave, die sich ab Ende der 70er Jahre über Bands wie Abwärts, Mittagspause, DAF oder Fehlfarben im deutsch(sprachig)en Raum ausbreitete und einen Evolutionsschub in der deutschen Populärmusik auslöste? Oder meint man, wie es sich mittlerweile eher eingebürgert zu haben scheint, spezifisch jene Spaß-Partie um Interpreten wie Markus, Hubert Kah, Nena, Peter Schilling, Trio plus die ein wenig zwischen den Lagern stehenden Ideal, die so penetrant mit ihrer „Witzigkeit“ hausieren ging, dass irgendwann alle hoffnungslos genug hatten und später niemand dabei gewesen sein wollte?

Egal, welcher Deutung man den Vorzug gibt – sicher ist: Xmal Deutschland gehörten eindeutig zur ersten Fraktion. Ihr dicht grundierter, von Keyboards und Gitarren akzentuierter Sound klang aufgewühlt, bisweilen bedrohlich und ganz sicher ebenso wenig „lustig“ wie die oft verknappten, abgründigen, mit vielerlei Formen physischer und psychischer Unterwerfung spielenden Texte. Stimme des Quintetts, das aus reinem Zufall anfangs nur aus Frauen bestand und sich just deswegen später einen „Quoten-Mann“ am Bass zulegte, war Anja Huwe. Ursprünglich war sie als Bassistin besetzt gewesen, aber weil die planmäßig vorgesehene Sängerin zur Aufnahme der Debüt-Single „Schwarze Welt“ (1981) nicht im Studio erschien, wurde Huwe zum Singen genötigt. Ihre Bedingung, auf keinen Fall live zu singen, wurde dezent dem Vergessen überantwortet – und so hatten Xmal Deutschland die vermutlich attraktivste Frontfigur im deutschen Pop der 80er Jahre.

Sehnsucht nach Leben und Leben danach

Obwohl Xmal Deutschland zunächst ausschließlich Deutsch sangen, hatten sie Erfolg in England, wo es ihre Platten in die Independent Charts und sogar in die regulären Charts schafften. Nach vier LPs, deren vorletzte „Viva“ überwiegend und deren letzte „Devils“ ausschließlich Englisch intoniert waren, löste sich die Band Anfang der 90er Jahre auf.

Spätes Solo-Debüt mit 65 Jahren Lebensweisheit: Anja Huwe. Foto: Jan Riebhoff

Huwe zog sich aus dem Musik-Business zurück, um eine Karriere als Bildende Künstlerin zu verfolgen. Zwischen Hamburg und New York pendelnd, widerstand sie jahrzehntelang Begehrlichkeiten nach einer Wiederbelebung von Xmal Deutschland. Von ihrer Langzeitfreundin Mona Mur ließ sich Huwe aber wenigstens zu neuer musikalischer Aktivität überreden. Mit der Hamburger Musikerin und Produzentin schrieb sie eine Reihe von Songs, die inspiriert sind von Tagebuchaufzeichnungen des 17-jährigen Moshe Shnitzki, der sich 1942 als jüdischer Partisan in den riesigen weißrussischen Wäldern versteckte. Es ist also kein Wunder, dass auf „Codes“, wie das erste Album von Anja Huwe als Solistin betitelt ist, viel vom Wald die Rede ist. Shnitzkis Enkel Yishai Sweartz ist übrigens als gelegentlicher Gastvokalist dabei.
Huwes wichtigste Begleiterin auf „Codes“ ist neben Produzentin und Co-Autorin Mur ihre frühere X-Mal-Deutschland-Kollegin Manuela Rickers, deren Gitarre in dieser großflächig elektronisch ausstaffierten Klanglandschaft die Rolle des Alphatiers übernimmt: bisweilen aufbrausend, aggressiv vorpreschend wie auch souverän (ge)leitend gibt sie die Richtung vor und zeichnet ein Stimmungsbild, das Unruhe und latente Bedrohung spüren lässt. Naturgemäß kommen da Erinnerungen an den Post Punk und die New Wave der frühen 80er, auch spezifisch an Huwes Vergangenheit bei Xmal Deutschland auf – was durchaus okay ist, da diese Musik ohne gröbere Verfallserscheinungen gealtert ist.

Anja Huwe (Mitte) 1982 bei Xmal Deutschland. Foto: Ilse Ruppert

Anja Huwe (Mitte) 1982 bei Xmal Deutschland. Foto: Ilse Ruppert

Huwe singt, mit leichtem Übergewicht auf ihrer Muttersprache, Deutsch und Englisch, vereinzelt auch Denglisch. So wenig, wie das Coverfoto das Alter(n) der 1958 geborenen Künstlerin zu verleugnen versucht, bemüht sie sich, im Englischen ihren Akzent zu kaschieren. Gerade aber dadurch, dass sie (wie die meisten von uns auf Reisen) Englisch als Verständigungstool einsetzt (und nicht um Native-Speaker-Aura ringt), klingt sie prononciert international und kosmopolitisch.
Im Opener „Skuggornas“ (schwedisch für „Schatten“) sinniert Huwe zu fast meditativen Keyboards und Klavier, dass sie nichts bereue: „Embrace the journey‘s end / umarme das Ende der Reise“, singt sie auf Englisch wie auch Deutsch. Danach wird in „Rabenschwarz“ mit aufheulender Gitarre und dröhnenden Drums das Tempo ordentlich angezogen. „Wir wissen nicht, was morgen ist / wir fliegen durch Zeit und Raum“, hebt Huwe beschwörend an, um alsbald in einen deklamatorischen Tonfall überzugehen, der vielleicht einem Manifest gut anstünde: „Wir bitten nicht mehr, wir machen / wir flehen nicht mehr, wir handeln / wir zittern nicht mehr, wir spiegeln / verlassen von dieser Welt“.

Menschliche Befindlichkeit in Extremsituationen

Mögen vereinzelte Textstellen schwierig zu dechiffrieren sein, zeichnet sich Schritt für Schritt, Stück für Stück ein größeres Ganzes ab, das von menschlicher Befindlichkeit in einer Extremsituation erzählt: Von Entfremdung von sich selbst, von düsteren Halluzinationen, bisweilen auch echtem Horror, von der Suche nach verlässlichen Bezugspunkten, der Sehnsucht nach einer neuen Identität, von „Sehnsucht nach Leben und Leben danach“, wie es in „O Wald“, einem enorm attraktiven Stück Electropop, heißt. Am Ende wird mit der langsamen Ballade „Hideaway“ eine sanfte Idylle entworfen, von der man nicht weiß, ob man ihr trauen kann. „Miles to go before I sleep“ lauten die letzten Worte des Albums.

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Anja Huwe

Anja Huwe: Codes (Sacred Bones)

„Wir wissen nicht, was morgen ist / wir fliegen durch Zeit und Raum“. (Aus „Rabenschwarz")