Große Variabilität im Kleinen
Über die musikalischen Variationskünste der englischen Sängerin und Gitarristin Nilüfer Yanya anlässlich ihres neuen Albums, „My Method Actor“.
Es war 2018, als der Song „Baby Luv“ von Nilüfer Yanya über mich kam (ich glaube, er war auf einer CD enthalten, die einer Musikzeitschrift beigelegt war). Und ich war sogleich hingerissen: dieser raffiniert synkopierte Rhythmus der Gitarre, eine Art von Stop-and-Go-Technik auf nur wenigen Saiten, darüber ein wie perlende Kohlensäure glucksender Gesang, mal tief, mal hoch, stets volle Intensität und Aufmerksamkeit fordernd. (Eine fragil-räudige Live-Fassung davon gibt es gleich zu Beginn eines Kurzauftritts in der berühmten Tiny-Desk-Session-Reihe von NPR).
Was bin ich der nunmehr 29-jährigen Londoner Künstlerin dankbar, dass sie diesen Song mittlerweile in fast unzähligen Versionen wiederholt hat, auch wenn die tracks ganz andere Namen tragen. Denn im Wesentlichen klingen seit damals – auf einigen EP’s und zwei bisher vollen Alben („Miss Universe“, 2019, und „Painless“, 2022) – alle Nummern mehr oder weniger wie „Baby Luv“. Alle dessen – zuvor nur andeutungsweise beschriebenen – musikalischen Elemente sind im Nukleus jedes weiteren Songs enthalten, ohne dass deswegen Langeweile aufkäme.
Wandlungsfähigkeit ist ein im Pop oft überschätztes Phänomen (und von mir aus hätten sich Talk Talk nicht in die Unhörbarkeit ihrer spätexperimentellen Phase „weiterentwickeln“ müssen, genauso wenig wie Radiohead in der Zeit nach „OK Computer“); wichtiger ist (mir) eine Form von volatiler Identität, von Variabilität im Kleinen. Und das beherrscht Nilüfer Yanya (deren Name übrigens auch das Ergebnis einer kleinen Abwandlung ist: nämlich von Nilüfer Yumlu, einem türkischen Popstar, den ihre Mutter verehrt) auf perfekte Art und Weise.
Gunst des Augenblicks
Das zeigt nun auch ihr neues, drittes Album, „My Method Actor“, das seit wenigen Tagen – erstmals bei Ninja Tune veröffentlicht – heraußen ist. Gemeinsam mit ihrem kreativen Kompagnon, dem britischen Produzenten und Musiker Will Archer, in einer Art von Pas de deux entwickelt, also in einem ausschließlichen Zweier-Projekt ausgebrütet, sind alle elf Nummern darauf von gewohnter rhythmischer und melodiöser Qualität, teils in flotterer, teils in gedrosselter Gangart. Gleich Song Nr. 2, „Like I Say (I Run Away)“, gibt die Richtung vor: „… chunky, distorted guitar crunches under the chorus, while a cheeky, shimmying beat runs through it“, beschreibt eine britische Agentur den Sound treffend (womit einmal auch andere Vokabel dieses insistierend prickelnde Hörerlebnis lautmalerisch wiedergeben sollen).
Es geht dabei um Zeitphänomene – um die Gunst (und Kunst) des Augenblicks, der – ach, wie viele Poeten & Philosophen haben sich an diesem Paradoxon schon abgearbeitet – nicht dingfest zu machen ist. Träumerisch, diffus, bisweilen enigmatisch sind die meisten Inhalte ihrer Songs, weil Nilüfer – eine anscheinend ähnlich aktive Tagebuch-Schreiberin wie Taylor Swift (mit der sie ansonsten freilich wenig verbindet) – sich im Akt des Schreibens und Singens ihrer eigenen Gedankenwelt erst so richtig (halb-)bewusst wird. Man muss ihr dabei nicht in alle Verästelungen ihrer Selbstwahrnehmung folgen (auch Poptexte sind meiner Ansicht nach oft überschätzt…): der Ausdruck ihrer Stimme – in vielen Schattierungen und Brechungen – tut ein Übriges und ist ein viel intensiverer synästhetischer (Hör-)Akt.
Da die Musikerin lieber im Studio tüftelt als auf Bühnen zu konzertieren (auch wenn sie schon Auftritte von u.a. Adele, Mitski, Roxy Music oder The xx supported hat, neben Headliner-Gigs quer über – fast – alle Kontinente), ist ihre Livepräsenz in nächster Zeit im deutschsprachigen Raum auf einen einzigen Termin beschränkt: auf den 26. November in Berlin (Kesselhaus).
Da Nilüfer Yanya in letzter Zeit Tori Amos für sich entdeckt hat, erwägt sie angeblich, dem Klavier (das sie selbst als Sechsjährige bereits spielen lernte) künftig mehr (Klang-)Raum in ihren Songs zu geben, was wie eine leise Drohung wirkt. Im deutschen „Rolling Stone“ hat sie kürzlich allerdings eh schon wieder Entwarnung gegeben: „Ich komme immer wieder auf die Gitarre und auf laute grungy und heavy Songs zurück.“ Ja, und so möge es bitte auch bleiben.