Individualistisch bis zur Ekstase
Neben dem atemberaubenden Elektronik-Trio Ebbb prägten der Hype um Hyperpop und Singer-Songwriterinnen mit ausgeprägter persönlicher Handschrift das ablaufende Jahr – eine persönliche Bilanz (Folge 3).
Eine der lustigsten Facetten der Pop-Rezeption ist ihre Affinität zu Hypes und hysterischen Superlativen. Aber ich fürchte, die Phrase „Schluss mit lustig“, die ich auf dieser Plattform schon ein oder zwei Mal strapaziert habe, ist schon wieder fällig.
2024 ist grundsätzlich nichts passiert, das es nicht schon vorher gegeben hätte. Es sind bloß ein paar Dinge durch die Decke gegangen.
Allen voran der Hype um Hyperpop. Jeder noch so trivialen Äußerung eines Stars oder Starlets in Songtexten oder auch Social-Media-Postings wird da eine diskursive Bedeutung eingeräumt, als würde dadurch die Demokratie neu definiert.
In sehr naher Zukunft, mark my words, wird man fassungslos den Kopf schütteln über die Terabytes an Speicherplatz und Tonnen von bedrucktem Papier, die verschwendet worden sind, um zu analysieren, was es zu bedeuten hat, wenn eine Sängerin wissen lässt, dass sie sich die Zehennägel frisch poliert oder eine neue Frisur zugelegt hat.
Fraglos: Charli XCX, die gegenwärtig die Speerspitze dieses Phänomens repräsentiert, hat Klasse, kann akzeptable Songs schreiben und stellt auf ihrem Album „Brat“ ein paar interessante Aspekte aus dem Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Existenz aus. Aber ihr deswegen gleich die Platte des Jahres attestieren, wie das in ungefähr 90 Prozent aller bedeutenden (oder sich bedeutend wähnenden) Pop-Medien geschehen ist? Ich weiß nicht.
Frauen-Power vs. politische Ohnmacht
Natürlich stand, wie die Kollegen Mürzl und Schmickl bereits umfassend dargelegt haben, 2024 im Zeichen der Frauen. Das sollte man zum einen eigentlich nicht mehr hervorheben müssen; zum anderen ist es aber vielleicht gerade darum gut so, weil gegenwärtig überall auf der Welt, auch in unseren Breiten, der gesellschaftliche Stellenwert der Frau unterminiert oder zu unterminieren versucht wird. Was uns wiederum einmal mehr zur politischen Ohnmacht des Pop-Genres führt.
Wenn in den USA die demokratische Präsidentschafts-Kandidatin trotz der Unterstützung durch eine alle kommerziellen Rekorde brechende Taylor Swift eine vernichtende Niederlage gegen einen vorbestraften, korrupten Primitivling mit steinzeitlichem Rollenverständnis einfährt, weiß man, wie es um die Wirkmacht von Pop bestellt ist. Da relativiert sich dann auch die Floskel „Frauen-Power“, falls jemand versucht ist, die in den Mund zu nehmen.
Rein künstlerisch übrigens lief Taylor Swift (für mich) heuer unter Nicht-einmal-ignorieren; etwas besser schnitt Beyoncé mit ihrem zumindest halbamüsanten Ausflug in die Prärie ab.
Wirklich formidabel präsentierten sich die prononciert individualistischen Singer-Songwriterinnen Naima Bock und Cassandra Jenkins, aber auch die R&B-Künstlerin Yaya Bey, die Soul-Pop-Rock-Grenzgängerin Joan As Police Woman und die Deutsch-Amerikanerin Schnallo, deren Denglisch zu Primitiv-Elektronik viel Spaß machte.
Den Erwartungen entsprach die exaltierte israelische Sängerin Noga Erez mit ihrem dritten Album; ein bemerkenswertes Debüt gab die aus Nigeria stammende, in Pidgin English vortragende britische Rapperin und Autorin OneDa.
Natürlich soll auch das unbetitelte Album aus dem Nachlass der verstorbenen Elektronik-Pionierin SOPHIE nicht unerwähnt bleiben, auch wenn kritische Geister es nicht als ihre beste Arbeit ansehen. Suki Waterhouse, bekannt als Schauspielerin und Model, wusste dagegen mit ihrem zweiten Longplayer überzeugend den Anspruch zu untermauern, als Musikerin ernst genommen zu werden.
Eine echte Entdeckung gab es heuer auch, nämlich die englische Formation Ebbb mit ihren abgehobenen, vertrackten Vokal- und Elektronik-Arrangements. Obwohl ihre erste, aus fünf Songs bestehende Platte „All At Once“ sich noch mit dem EP-Format bescheidet, war es für mich das Größte, was im ablaufenden Jahr herausgekommen ist.
Grandios waren allerdings auch Hiatus Kaiyote mit ihrer abenteuerlichen Jazz-Soul-Rock-Fusion und Ex-Wild-Beasts-Bassist, -Sänger und -Songschreiber Tom Fleming mit dem zweiten Elaborat unter seinem Moniker One True Pairing, der gewissermaßen prototypisch für die großen Singer-Songwriterinnen-Platten von heuer steht: Sie alle haben eine individualistische, stilistische entgrenzte, dabei aber integrative, verbindliche Musiksprache gefunden.
Ansonsten schien für 2024 charakteristisch, dass zahlreiche gute bis sehr gute Bands mit das Beste ablieferten, was sie zu bieten haben: Loma mit ihrem fein ziselierten, verästelten Elektronik-Folk-Rock etwa, der eklektische Alleskönner/-versucher Toro Y Moi, die Essener Weltklasse-Rock-Band International Music, die famose Westcoast-Formation La Luz – und nicht zuletzt Ja, Panik, die mit einer nicht für möglich gehaltenen Überzeugungskraft zurück zum hämmernden Rock gefunden haben.
Stichwort Österreich: Die nunmehr schon Jahrzehnte währende Tradition hervorragender Musik aus heimischer Produktion konnte schadlos aufrechterhalten werden. Spektakulär gut zeigten Zinn sich nicht nur auf ihrem zweiten Album „Chthuluzän“, sondern auch bei der Live-Performance im Rahmen des Bluebird-Festivals im Porgy & Bess.
Aufsteiger des Jahres waren indes wohl Endless Wellness, die mit Ischia auch noch einen bemerkenswerten Spin-Off ins Rennen geschickt haben.
Als große Hoffnung von morgen hat sich die melancholische Singer/Songwriterin Ines Wurst in Position gebracht, auch die ihr stilistisch weitschichtig verwandte und so wie sie vom Schauspiel kommende Musikerin Rahel betätigte (und übertraf bisweilen) mit ihrem ersten Full-Length-Album „Miniano“ die Erwartungen, die kleinere Veröffentlichungen über die Jahre zuvor geweckt haben.
Nachgerade makellos geriet „Flaws“, der irreführend betitelte erste Longplayer des Quartetts Gardens. Leyya wiederum, seit Jahren eine Bank im Bereich zwischen TripHop, Pop und Rock, bedienten mit „Half Asleep“ die nicht übertrieben hypetaugliche Schublade „verlässliche Qualität“. Man ist so gewohnt, dass dieses Duo liefert, dass es niemanden aus den Socken blies, als es auch heuer geschah.
So geht’s halt. Aus der Distanz von ein paar Jahren wird man eine würdigere Bewertung für solche Arbeit finden.
Die besten Popalben 2024 international
1. Ebbb: All At Once (GB; EP)
2. Loma: How Can I Live Without A Body? (USA)
3. One True Pairing: Endless Rain (GB)
4. Hiatus Kaiyote: Love Heart Cheat Cod (Aus)
5. Ja, Panik: Don´t Play With The Rich Kids“ (A)
6. La Luz: News Of the Universe (USA)
7. Schnallo: White Fluffy (D)
8. Yaya Bey: Ten Fold (USA)
9. Naima Bock: Below A Massive Dark Land (GB)
10. International Music: Endless Rüttenscheid (D)
Die besten österreichischen Popalben 2024
1. Ja, Panik: Don´t Play With The Rich Kids
2. Endless Wellness: Was für ein Glück
2024 ist grundsätzlich nichts passiert, das es nicht schon vorher gegeben hätte. Es sind bloß ein paar Dinge durch die Decke gegangen.