Wie aus einer anderen Welt
„Nur“ eine EP, aber ein Gigant: „All At Once“ des Londoner Trios Ebbb.
Die angebliche und oft beklagte, TikTok und Streaming-Diensten angelastete Krise des Album-Formats hat auch eine positive Seite: Indem sich das Album, das „keiner mehr braucht“, vom kommerziellen Trägermedium zum Liebhaber-Projekt/-Produkt wandelt, bekommt es – wieder – tiefere Bedeutung, wie das bis Mitte der 60er Jahre der Fall gewesen war, als Singles den Markt beherrschten. Wenn Longplayer nun seltener, aber bewusster produziert und „konsumiert“ werden, sind sie auch wieder prononcierter Statements und nicht einfach Produkte einer Marktroutine.
Mit diesem Wandel haben aber auch Hybrid-Formate an Gewicht gewonnen. Bevor sie sich in abendfüllender Breite der Welt offenbaren, veröffentlichen Künstler heute oft EPs („extended plays“): Vier, fünf Songs auf einer Länge von um die 15 Minuten, bisweilen sogar schon dramaturgisch durchdacht kompiliert.
„All At Once“, eine Fünf-Song-EP des Londoner Trios Ebbb, ist ein Beispiel dafür, wie großartig das sein kann.
Viel ehrfürchtiges Raunen ist diesem Platten-Debüt vorausgegangen. Bisher kannte man Ebbb nur durch Live-Auftritte, deren einige auf YouTube nachverfolgt werden können. Auf diesen präsentiert sich die Formation meist eher rau, bisweilen stürmisch und sehr reduziert.
Die Platte hat mit der Live-Performance so viel gemein, dass beide ein Sog charakterisiert, der gemeinhin als hypnotisch bezeichnet wird. Aber in ziemlich krassem Unterschied zur Bühnen-Inkarnation zeigen sich die Ebbb von „All At Once“ kontrolliert, fein abgestimmt und vermutlich gerade darum oft erstaunlich voluminös.
Ebbb bestehen aus Sänger Will Rowland, Schlagzeuger Scott MacDonald und Produzent Lev Ceylan, der als reguläres Mitglied geführt wird und tatsächlich in der Band wohl einen ähnlichen Rang einnimmt wie Brian Wilson bei den Beach Boys. Sein Genie an den Reglern macht aus einem Minimum an personellen und instrumentalen Mitteln im Studio vertrackte, komplexe und unglaublich vielschichtige Kunstwerke.
Eigentümlich elegisch
Was als erstes frappiert – und betört – sind die vielstimmigen, zu Chorälen, Kanons und Sphärengesängen geformten Arrangements um Rowlands ziemlich hohe, fragile Stimme. Wenn man gerne etwas bedachtlos von „überirdisch“ spricht – hier trifft es tatsächlich. Möglicherweise auch deswegen hat man dem Opener den deutschen Titel „Himmel“ gegeben, der wesentlich stärker als das englische „heaven“ mit einer spirituellen Dimension konnotiert ist.
Was es aber eigentlich ausmacht, ist, wie diese Stimmen mit Drums, Percussion und Elektronik interagieren und die Musik dabei nie ganz ihre eigentümlich elegische Anmutung verliert.
Der erwähnte „Himmel“ beginnt mit Synthesizer-Wabern und feierlichem Kanon-Gesang, ehe zeitgleich ein fast nur unterschwellig wahrnehmbares, gleichwohl galoppierendes Pochen und ein munterer Keyboardlauf einsetzen – während der vielstimmige Gesang aber weiterhin mit stoischer Ruhe seine Spur zieht. „When you fall from a distant height / then again you’re out sight“ wird da am Ende fast gebetsmühlenartig skandiert.
Bei „Answered“ treffen interagierende Chöre, die sich mit Fortdauer in die Haare geraten zu scheinen, ganz am Ende aber wieder harmonisieren, auf einen stampfenden Techno-Rhythmus, der in der finalen Phase auch in einen etwas dezenteren Flow gleitet.
„Swarm“ interpunktiert munteren Gesang auf flott-seriellem Beat mit einem Beach-Boys-artigen Zwischenspiel und handelt vom Druck, man könnte auch sagen: dem Terror, den Gesinnungsgemeinschaften – und der hier zur Debatte stehende „Schwarm“ ist wohl eine solche – auf die Gesellschaft wie auch ihre eigenen Anhänger ausübt, und wie sich Menschen in Form von Anpassung und Zurechtbiegen der Wahrheit damit arrangieren.
So vergleichsweise klar sind die Inhalte auf „All At Once“ ansonsten nicht; überwiegend sind sie eher kryptisch, haben aber, wie besonders „Seamlessly“, wohl nicht wenig mit Entfremdung zu tun.
Eine Sisyphos-Geschichte – alles wieder von vorne – scheint „Torn“ zugrunde zu liegen. In dem vielleicht allerbesten Stück der EP trifft hymnischer Gesang, den Rowland weitgehend allein absolviert, wieder auf Techno-Strukturen, bis es ihn – siehe Titel!! – knapp vor Halbzeit der vier Minuten währenden, gefühlt aber viel längeren Laufzeit mit einem tollen Break und nachfolgendem, wie von 100 Ratschen erzeugten Rattern auseinanderzureißen scheint. Ein neuerliches Break bringt die Musik auf eine abschließende Schleife, die man sich vielleicht als Extremvariation des Loops vorstellen kann, das Django Django wie einen Schwimmreifen um ihren Klassiker „Default“ gelegt haben.
„Seamlessly“ beginnt demgegenüber klassisch und sehr verträglich mit anmutigem Piano-Motiv und Balladen-Gesang, übersteht den Weg über die Distanz zwar auch nicht ohne kleinere Brüche und Tempowechsel, ist aber letztlich der normalverbraucherverträglichste Song des Mini-Albums, das für den Ritt über die volle Distanz eigentlich nur besorgte Erwartungen auslösen kann.
Denn es scheint schlechtweg unmöglich (oder bedürfte eines wahrhaft himmlischen Kraftakts), das Niveau der EP über eine ganze LP zu halten. Falls dies allerdings gegen jede Wahrscheinlichkeit und gegen die Gesetze menschlicher Begrenztheit und Fehlbarkeit doch gelingt, dann wird das nicht allein Album des Jahres, sondern des Jahrzehnts. Mindestens.
Wenn man gerne etwas bedachtlos von „überirdisch“ spricht - hier trifft es tatsächlich. Möglicherweise auch deswegen hat man dem Opener den deutschen Titel „Himmel“ gegeben.