Monotone Fahrt durchs Stereospektrum
„Autobahn“ von Kraftwerk, vor etwas mehr als 50 Jahren erschienen, ist bis heute ein Gesamtkunstwerk und avantgardistisches Experiment im Feld der Pop-Musik: Eine Annäherung im Rückspiegel.

Kraftwerk: Autobahn 50th Anniversary Edition mit Blue Ray und Picture Disc © Warner
Die Revolution, sie blieb zunächst unbemerkt. Erst nach mehr als einem Jahr begann man in Deutschland langsam zu erkennen, dass sich im November 1974 nicht weniger als die Initialzündung der deutschsprachigen Pop-Musik ereignet hatte. Mehr noch: die Geburt der elektronischen Pop-Musik aus dem Geiste einer „industriellen Volksmusik“. Kraftwerk – „Autobahn“. Was für ein Album! Danach war nichts mehr wie zuvor: Menschen machten Musik mit Maschinen. Zukunftsmusik, zu hören im Hier und Jetzt der Bundesrepublik Mitte der siebziger Jahre. Oder mit dem Werbespruch zur Veröffentlichung von David Bowies „Heroes“ gesagt: „Tomorrow belongs to those who hear it coming.”
Mit ihrer Konzeptkunstidee einer elektronischen Klangerzeugung für populäre Unterhaltungszwecke lösten Ralf Hütter und Florian Schneider den wohl gewichtigsten Paradigmenwechsel in der Geschichte der populären Musik des 20. Jahrhunderts aus: Kraftwerk ersetzten Gitarren und Drums durch technische Apparaturen. Sie stylten sich als roboterhafte Mensch-Maschinen-Zwitter, irgendwo in einer Grauzone zwischen „halb Wesen und halb Ding“. Statt menschlichem Gesang waren plötzlich künstliche Vocals und Maschinenstimmen zu hören, was ihnen seitdem die halbe Popwelt nachmacht. Von Depeche Mode bis Detroit Techno, von David Bowie bis Daft Punk, von HipHop bis K-Pop sind die kompositorischen Ideen, künstlerischen Entwürfe und technischen Lösungen, die Kraftwerk in ihrem kleinen Kling-Klang-Studio im Düsseldorfer Bahnhofsviertel ausheckten, zur DNA der Pop-Musik des 21. Jahrhunderts avanciert.
Diese epochale Revolution des Pop durch elektronische Klangerzeugung begann mit „Autobahn“: eine Autotür schlägt zu, der Motor wird angelassen und los geht die Fahrt von links nach rechts durchs Stereospektrum. „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn …“ – nicht wenige Hörer hielten das sich über eine gesamte Schallplattenseite erstreckende Stück zunächst für eine Art Schlager oder Kinderlied. Eines der vielen Missverständnisse, die Kraftwerks Werdegang begleiteten.
Maschinelle Ästhetik & postmoderner Humor
In Wirklichkeit ist das Titelstück „Autobahn“ ein kleines Gesamtkunstwerk und avantgardistisches Experiment im Feld der Pop-Musik: mit knapp 23 Minuten Spieldauer ahmt es eine Fahrt irgendwo im dichten Autobahnnetzwerk der Rhein-Ruhr-Region nach, die technischen Geräusche schaffen den konzeptuellen Rahmen für eine maschinelle Ästhetik, die die Monotonie des Autofahrens in der musikalischen Motorik spiegelt. Die Sequenz, in der das Autoradio angestellt wird, aus dem dann parodistisch der Refrain des Stückes erklingt, ist ein herrliches Beispiel für den postmodernen Humor Kraftwerks. Und der bewusst minimalistisch angelegte Text liefert eine genaue Bildbeschreibung des Covers, das eine liebliche Naturlandschaft zeigt, durch die eine Autobahn verläuft, die sich im Horizont verliert:
Vor uns liegt ein weites Tal
Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl
Die Fahrbahn ist ein graues Band
Weiße Streifen, grüner Rand

Das Original-Cover-Gemälde von Emil Schult.
Das elektronische Musikstück „Autobahn“ ist nicht weniger als ein popkulturelles Kunstwerk, ein multimediales Konstrukt aus Konzeptkunst, elektronischer Musik, simplem Songtext und Covergemälde, das sich stimmig zusammenfügt zu etwas, das man treffend mit jenem Begriff bezeichnen kann, den Kraftwerk-Gründungsmitglied Ralf Hütter geprägt hat: ein „Musikgemälde“. Zu Leben erwacht es bei den Konzerten, welche die unter der Ägide des letzten Gründungsmitglieds Ralf Hütter unbeirrt um die Welt tourenden Kraftwerk auf Musikfestivals, in Symphoniehäusern oder Kunstmuseen spielen. Dabei verwandelt sich das von Emil Schult gemalte Gemälde auf dem Cover in eine retrofuturistische Filmprojektion, welche die Musik punktgenau begleitet. Diese ist längst schon digitalisiert und wird auf der Bühne als ein Live-Mix aufgeführt, der inzwischen von seiner ursprünglichen Länge einer ganzen LP-Seite auf etwas unter 15 Minuten geschrumpft ist. In dieser Fassung ist „Autobahn“ etwa auf dem 2017 veröffentlichten Boxset „3-D Der Katalog“ zu hören.
Nicht nur „Autobahn“, auch alle anderen Stücke von Kraftwerk haben sich im jahrelangen Prozess der Digitalisierung nicht nur klanglich, sondern auch längentechnisch verändert. Ebenso adaptiert wurde das Coverdesign, das durchweg, gemäß der minimalistischen Leitästhetik Kraftwerks, vereinfacht wurde. Das inzwischen nostalgisch wirkende Gemälde von Schult wurde so durch das allbekannte blaue Autobahnschild ersetzt, das nun auch auf der zum Jubiläum der „Kraftwerk: Autobahn 50th Anniversary Edition“ zu bestaunen ist. Darin enthalten ist die Originalversion, nun aber auf Blu-ray-Disc mit einem neuen Dolby Atmos-Mix in 5.1 und 24 Bit/48 kHz Stereo, sowie in Vinyl erstmals als offizielle Picture Disc.
Neuartige „Heimatmusik“

Das mittlerweile übliche Cover, das sich im Laufe der Jahre vereinfacht hat… © Warner
Ob man allerdings viel Geld ausgeben sollte für diese Wiederveröffentlichung, ist fraglich. Auch auf einer verkratzten Platte vom Flohmarkt klingt „Autobahn“ nach 50 Jahren frisch und innovativ. Denn entscheidend ist doch dies: Vor einem halben Jahrhundert haben sich zwei Bürgersöhne aus dem industriell geprägten Bundesland Nordrhein-Westfalen künstlerisch und konzeptionell denkend daran gemacht, in Anbetracht des unbeschreiblichen Horrors der damals gerade einmal drei Jahrzehnte zurückliegenden Nazivergangenheit eine neuartige Form der „Heimatmusik aus der Rhein-Ruhr-Gegend“ zu schaffen, wie das zweite Gründungsmitglied, der 2020 gestorbene Florian Schneider, die elektronische Pop-Musik von Kraftwerk charakterisierte.
Das war damals. Den neuen Ton in der deutschsprachigen Musik unserer traurigen, von Krieg in Europa, der ökologischen Doppelkatastrophe von Klimawandel und Artensterben, Pandemien und ökonomischen Verwerfungen bedrohten Welt geben mittlerweile eine ganz andere Art von Bands an: etwa Rammstein, Frei.Wild oder Andreas Gabalier. Musiker mithin, die mit faschistischer Ikonografie ein Spiel mit dem Feuer betreiben, scheinheilig mit nationalistischen Positionen kokettieren oder in einer Pop-Variante der sogenannten volkstümlichen Musik rechte bis reaktionäre Botschaften verbreiten.
Kraftwerks Gesamtkunstwerk liefert ein veritables Gegenmodell zum reaktionären Nationalismus: Zwar begann ihr musikalischer Weg 1974 mit dem deutschesten aller deutschen Nationalsymbole, der Autobahn, doch ging es dann via „Trans Europa Express“ (1977) in Richtung eines internationalen Kosmopolitismus weiter, um 2002 im letzten Studioalbum, „Tour de France“, zu enden, das komplett auf Französisch gesungen wird.
Hinweis: Im November 2024 ist von Uwe Schütte der Band „Wir sind die Roboter. Kraftwerk und die Erfindung der elektronischen Pop-Musik“ im Verlag btb erschienen (384 Seiten, 18,50 Euro).

Kraftwerk: Autobahn 50th Anniversary Edition mit Blue Ray und Picture Disc © Warner
"Autobahn" ist ein multimediales Konstrukt aus Konzeptkunst, elektronischer Musik, simplem Songtext und Covergemälde.