Multimediales Geschäftsimperium
Nick Cave zum unrunden 67. Geburtstag: Wie aus einem musikalischen Extremisten ein Weltstar, noch drastischer: eine Marke wurde.
Er ist an der Nadel gehangen, hatte unglückliche Affären wie jene zu Kollegin PJ Harvey und es ist nicht noch nicht so lange her, dass er zwei seiner vier Söhne verlor: Einer stürzte 2015 im LSD-Rausch von einer Klippe, ein anderer starb 2022 aus nie bekannt gewordener Ursache.
Das mythologische Bild von Nick Cave als Düstermann hat durchaus einen Anker in der Biographie des Künstlers. Ein anderer sind seine Texte: Geschichten über Delinquenten in der Todeszelle, über Mord, Eifersucht, Vergeltung, Schuld und Sühne, Gott und Teufel und die ungesunden, bisweilen tödlichen Konsequenzen erotischer Begierde, erzählt mit biblischer Wucht und lakonischem Sarkasmus.
Die Musik des 1957 in Warracknabeal im australischen Bundesstaat Victoria geborenen Nick Cave wurde zunächst eher als Anschlag auf das Medium Pop empfunden denn als das wegweisende, in einem weit gefassten Sinn sogar innovative Werk, das sie war: Denn der messerscharfe, psychotische Blues-Punk seiner Band The Birthday Party, als deren Sänger, Songschreiber, gelegentlicher Keyboarder und Saxophonist er Anfang der 80er Jahre erste Aufmerksamkeit erregte, war in dieser Form beispiel- und vorgängerlos.
Noch mit den Bad Seeds, in Nachfolge der Birthday Party in Berlin formiert und bis 2003 mit Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten an Bord, hielt Cave für eine Weile Normalverbraucher auf Distanz.
Caves frenetische Live-Auftritte hatten den Charakter von Messen, wenn nicht gar öffentlichen (Selbst-)Exerzismen: Wie ein Berserker fegte der hagere, eingefallene, langmähnige Musiker über die Bühne, während in seinen Augen und besessenen Gesichtszügen der blanke Wahnsinn zu glitzern schien.
In Interviews bekundete er eine äußerst limitierte Achtung vor seinem Metier: „Pop-Musiker zu sein ist eine so minderwertige Beschäftigung!“, klagte er einmal. Auch Journalisten ließ er seine Geringschätzung spüren.
Indessen verbreitete die Fama seinen Ruf als extremer, verwegener, spektakulärer Künstler und führte ihm solchermaßen immer mehr Neugierige zu. Und da Cave zumindest bei Kritikern, die auf Insider-Coolness und Fortschritt(lichkeit) hielten, eine gute Presse hatte, bekam er stetig weiter wachsenden Zulauf von Menschen, die irgendwo gehört, gelesen oder aufgeschnappt hatten, „dass der Nick Cave sehr gut sein soll“.
Der natürliche Abschliff durch die Jahre vollendete schließlich die Erfolgsgeschichte des Nick Cave: Indem sich die Musik gefälligeren Einflüssen und Formen öffnete, steigerte sie gewissermaßen auf natürlichem Weg ihren Verbreitungsradius. Zunehmende Anerkennung, aber auch die Möglichkeit zu vielseitiger künstlerischer Selbstverwirklichung als Schauspieler, Roman- und Drehbuchautor befriedeten schließlich auch sein öffentliches Auftreten.
In den Nuller-Jahren zog er noch einmal die Reißleine, nachdem er sich mit den ultraerfolgreichen „Murder Ballads“ (mit Duett-Partner/innen wie Kylie Minogue, Shane MacGowan oder PJ Harvey) und dem ebenfalls sehr balladesken Piano-Album „The Boatman’s Call“ eine allzu beschauliche Gangart einschlagen sehen hatte, und stimmte mit dem Quartett Grinderman und Warren Ellis als seinem bis heute wichtigstem Partner wieder heftigere Takte an.
Vorhersehbarerweise blieb diese Rückbesinnung eine endliche Periode. Caves letzten regulären Veröffentlichungen, „Skeleton Tree“ (2016) und „Ghosteen“ (2019), eignet ein introspektiver, ja definitiv meditativer Charakter, versuchen sie doch, den Unfalltod seines Sohns Arthur zu bewältigen.
Diese Tragödie hat den Künstler Nick Cave, wie der „Spiegel“ zitiert, von der Ehrfurcht vor dem eigenen Genie befreit.
Sie könnte aber auch eine Umtriebigkeit auf allen Kanälen ausgelöst haben: Denn neben seinen vielen bereits genannten künstlerischen Aktivitäten betreibt Cave einen Blog, in dem er freundlich, geduldig und ausführlich Fragen, wie abseitig sich diese manchmal auch ausnehmen mögen, beantwortet. Noch lustiger ist allerdings, dass er Geschirr – Heferl, Untersätze, Eierbecher -, aber auch Kleidung, Karten und Poster mit selbst gezeichneten Motiven verziert und verscherbelt.
Horribile dictu, aber man muss es so sagen: Nick Cave ist eine Marke geworden, um die herum ein ganzes Geschäftsimperium entstanden ist. Ein multimediales Geschäftsimperium, um es in aller grausamen Mode- und Schlagwort-Plumpheit auszusprechen.
Vor kurzem ist von Cave ein neues Album erschienen, „Wild God“ heißt es. Die Platte nach den Platten-als-Trauerarbeit gewissermaßen, eine „reguläre“ Platte.
„Wild God“ ist wohl nicht Nick Caves bestes Album – wer wollte dieses auch anhand welcher Indikatoren bestimmen?!? -, aber möglicherweise, vermutlich, was sage ich: ziemlich sehr sicher sein sympathischstes. Dieser weltumarmende Gestus! Engelschöre, Pauken und Trompeten, der Himmel oder zumindest die Lautsprecher voller Geigen! Diese verständigen, empathischen Texte! 44 Minuten Goodwill, Humanismus, Empathie. „I told my friends some things were good / That love would endure if it could“. Und sieh, wie die Frösche lustig hüpfen, wenn es geregnet hat!
So direkt, unmittelbar hat Nick Cave seine Hörerschaft noch nie angesprochen.
Gleichzeitig – und dazu passend – ist „Wild God“ so niederschwellig wie keine andere Platte des Sängers und Pianisten. Stellenweise klingt sie fast nach Schlager – so etwas wie das orchestral schunkelnde, von üppigen Hintergrundstimmen verstärkte Keyboard-Motiv im Opener „Song Of The Lake“ etwa meint man von Demis Roussos und Seinesgleichen in Erinnerung zu haben – und niemand kann darob böse sein. Das ganze Album fließt über vor Wohlklang, Opulenz und Belcanto.
Dabei leistet sie sich – und zwar nicht zu knapp – auch ihre Momente der Irritation, unvorhersehbaren Wendungen, Sophistication und selbstreferenziellen Details.
Ein Song mit dem Titel „Joy“ ist als statischer Blues angelegt, der mit tief introvertiertem Pianospiel und getragener Bläserverstärkung vielleicht einem Requiem oder gar Begräbnis anstehen würde. In den hymnischen Titelsong schmuggelt Cave für eine flüchtige Erinnerung die Prostituierte aus seinem Stück „Jubilee Street“, die von einem gesellschaftlich angesehenen Freier (vermutlich) geschwängert und ermordet wurde.
Caves 2021 verstorbene ehemalige Freundin und Band-Kollegin bei den Bad Seeds, Anita Lane, wird wiederum in „O Wow O Wow (How Wonderful She Is)“ per telefonischer Gesprächsaufzeichnung reanimiert. Offensichtlich inspirierte die Erinnerung an Liebe und kreative Zusammenarbeit einen besonders hübschen Text, in dem Pferde ihren Stall niedertrampeln, Hasen die Karotten in die Ohren stecken, farbige Buntstifte auf dem Tisch tanzen, Hunde ihre Schatten anbellen.
„I can confirm that God actually exists“, singt Cave in diesem Stück. Ob er dabei Anita Lane als Person meint oder die durch den romantischen Ausnahmezustand erlebten Wunder oder beides zusammen, darf dahingestellt bleiben. Die Aussage könnte wie ein Resümee des Nick Cave nach karrieristischen Wechselfällen, Triumphen und Schicksalsschlägen stehen. Und dass er seinen 67. Geburtstag am 22. September tatsächlich erleben wird.
Das neues Album „Wild God" ist wohl eher nicht Nick Caves bestes, ziemlich sehr sicher aber sein sympathischstes Album.