Ohne Vorderzähne hinauf auf die Bäume
Offene Fenster, offene Türen: Die US-Künstler Perfume Genius und Bon Iver überraschen mit neuen Alben voller Spielfreude und Zuversicht.

Perfume Genius: Glory (Matador)
Beide kommen aus den USA, beide sind 43 Jahre alt, und beide haben relativ hohe Stimmen. Weiters sind beide in allerlei Kämpfe mit inneren Dämonen verstrickt, und beide haben ihre Karrieren mit künstlerischen Alias-Namen gemacht. Und nun haben beide, kurz nacheinander, neue Alben veröffentlicht, die wie eine Befreiung wirken. Die Rede ist von Mike Hadreas alias Perfume Genius und Justin Vernon alias Bon Iver.
„Glory“ heißt das siebente Album von Perfume Genius kurz & knapp – und verströmt doch eine Weite, Breite und Offenheit, für die der in Seattle, Washington, geborene und in L.A. lebende Künstler bisher so nicht bekannt war. Zwar fiel immer schon da und dort ein Spalt Licht in die großteils von Düsternis, Selbstzweifeln und Ängsten verdunkelten Songs des fragilen Ästheten, zuvorderst auf den großartigen Alben „No Shape“ (2017) und „Set My Heart On Fire Immediately“ (2020). Aber so hell und luftig, ja nachgerade aufgeräumt wie auf „Glory“ ist einem Hadreas bisher selten entgegengetreten. Wobei er ja trotzdem vorsichtig (ver)bleibt, wie man gleich im ersten Song, „It’s A Mirror“, erfährt, wenn es heißt: „I still run and hide when a man’s at the door“. Schließlich hat der Mann so seine Erfahrungen mit homophoben Übergriffen.
Aber zumindest musikalisch öffnet er die Tür eingangs sperrangelweit: Es ist ein rockiger, geradliniger, vor Vitalität vibrierender Song, der im Lauf der dreieinhalb Minuten sogar noch an Intensität zulegt. Der dichte, volumenreiche und doch transparente Sound verdankt sich auch dem Umstand, dass die Platte diesmal mit Hadreas’ Liveband direkt im Studio eingespielt wurde. Mit dabei waren u.a. der Gitarrist Meg Duffy und der Drummer Jim Keltner, produziert hat Blake Mills, der u.a. schon bei Bob Dylan, Fiona Apple und Conor Oberst seine Hände im Spiel, d.h. an den Reglern hatte.
Und auch Hadreas’ Lebenspartner Alan Wyffels, dem mit „Me & Angel“ eine herzzerreißend schöne Liebesballade gewidmet ist, hat Songideen und Lyrics beigesteuert. Berührende Zeilen wie „There’s a halo that I’ll always hold its shape“ hört & liest man derart poetisch fluide im zeitgenössischen Pop nur selten.
Drama-Pop at its best
Wirklich durchgeknallt (im ganz wörtlichen Sinne, da auch ein Revolver darin vorkommt) ist freilich das Video zu „No Front Teeth“, einem Duett mit der neuseeländischen Sängerin Aldous Harding. Aber auch dieser Song beinhaltet eine erfahrungsgesättigte Erkenntnis: „No front teeth/ But a feeling I know“, und kommt alles andere als angstvoll daher. Überhaupt gehören die vier ersten Songs auf diesem Album musikalisch zu den besten in der schon bisher üppigen Bilanz dieses Ausnahmekünstlers im Fach Drama-Pop. Danach wird es zwar weniger zwingend & eingängig, bleibt aber bis zum Ende hin auf- & anregend, auf ästhetisch bestechend hohem Niveau. Ein Premium-Album der Sonderklasse.
Fragwürdig ist nur, warum dieses Zeugnis der Selbstbefreiung und des beständigen Aufstehens (nach Niederschlägen aller Art) auf dem Cover bildlich derart kontraproduktiv niederschmetternd dargestellt & dokumentiert ist. Aber Irritationen gehören bei Mike Hadreas zum Programm und sind in seiner künstlerischen DNA fest verankert – und vielleicht traut er seinem Aufbruch ja selbst noch nicht so ganz.
Neues Album in zwei Schritten
Auch Justin Vernon ist ein großer Zweifler vor dem Herrn – mit freilich durchschlagendem Erfolg. Sein Kammerfolk, zuerst in akustisch reduzierter Form dargeboten (auf dem in der Holzhütte in Wisconsin entstandenen Debüt „For Emma, Forever Ago“, 2007), danach elektronisch verfremdet, stimmlich vervielfacht und inhaltlich verrätselt (wie auf den Alben „22, A Million“, 2016, und „I, I“, 2019), ist unter dem Projektnamen Bon Iver zu einem globalen Bestseller geworden – und hat ihm u.a. Kooperationen mit Kanye West und Taylor Swift eingetragen.

Bon Iver: Sable, fable (Jagjaguwar)
Nun, nach sechs Jahren Pause (mit einigen Konzerten, die ihn, den habituell Zurückgezogenen, teilweise laut Selbstauskunft überfordert haben), gibt es ein neues Album, das quasi in zwei Schritten daherkommt. Noch im Herbst des vergangenen Jahres erschien die EP „Sable,“ (mit andeutungsvollem Komma!), deren drei Nummern nun – als „Disc 1“ (auch digital) ausgewiesen – die Eröffnung, quasi die Rampe des Full-Length-Albums „Sable, fable“ bilden. In diesem Song-Trio gibt sich Vernon noch traditionalistisch: Die Stimme klar (und in ihren natürlichen Tiefen verbleibend), die Arrangements reduktionistisch, die Inhalte gewohnt grüblerisch: „I am afraid of changing“ heißt es im ersten Song, „Things Behind Things Behind Things“, schon im Titel eine Art Spiegelkabinett des Selbstbezüglichen andeutend.
Aber in Song 3, „Award Season“, der wie eine priesterliche Verkündung anhebt, heißt es dann: „Oh, how everything can change/ in such a small time frame“. Und dann öffnet sich das Fenster – und hereinströmen Zuversicht („time heals, and then it repeats“), Helligkeit und Klangfülle. Schon die zweite Nummer auf „Disc 2“ kann vor Umarmungslust kaum noch an sich halten: „Everything Is Peaceful Love“ tönt es da aus voller Kehle (in wieder höherer Stimmlage), eingebettet in prächtiges Instrumental-Ornat. Vernon klettert voll kindlicher (Erinnerungs-)Freude auf Bäume und jubiliert in ungewohnt tremolierender Weise.
Im anschließenden „Walk Home“ gefällt er sich zwar wieder einmal in vocoderhafter Stimmverzerrung, rollt dann aber mit fester Stimme einen breiten Countryteppich aus, auf dem er triumphal heimwärts zieht: „… and my heart is feeling large“.
R’n’B, Gospel & große Hymnen
In der Folge zeigt Justin Vernon, dass er auch Groove und R’n’B kann, verschleppten HipHop, Gospel („Day One“, in Kooperationen mit Dijon & Flock of Dimes), und die große Hymne: Im Duett mit Danielle Haim (von den gleichnamigen Sisters) intoniert er „If Only I Can Wait“, welcher Song angeblich entstanden ist, während die beiden gemeinsam mit Produzenten Jim-E Stack mehrere Tage in einem Studio eingeschneit waren.
„Sable, fable“ (am Cover geometrisch schlicht gehalten: lachsfarben, mit schwarzem Einsprengsel) endet mit dem schönen Resümee-Song „There’s A Rhythmn“ (mit etwas rätselhaftem „n“): „Can I feel another way/ or are less and more the same?/ Can I really still complain?“. Derart ausladend harmonisch kriegt einen solch geruhsamen Ritt in den Sonnenuntergang ansonsten nur noch US-Western-Kollege Israel Nash hin. Danach verdämmert das Klingeling des davor angehäuften Instrumentariums in „Au Revoir“ auf dezent-klang(aus)sparende Weise.
Feiner, leiser, besser geht’s kaum. Kein Wunder, dass Bon Iver (noch) davor zurückschreckt, wieder auf Tour zu gehen. Dort könnten die Dämonen auf ihn warten.

Perfume Genius: Glory (Matador)
So hell und luftig, ja nachgerade aufgeräumt wie auf „Glory“ ist einem Mike Hadreas alias Perfume Genius bisher selten entgegengetreten bzw. (wie auf dem Cover) entgegengefallen