Spielräume & Songlexika

Wie Radio Ö1 zu einem veritablen Pop-Sender für Erwachsene wurde.

Von
1. Mai 2024
Medien-Kunde

Pop diffundiert quer durchs musikalische Angebot von Ö1 (Foto: ORF)

Wann immer Änderungen beim ORF-Radiosender Ö1 anstehen, klingeln sofort die Alarmglocken. So auch jüngst, als Pläne über eine Verschmelzung einiger Ö1-Abteilungen (u.a. Wissenschaft, Kultur und Musik) mit TV- und Online-Redaktionen bekannt wurden. Einem offenen Brief Prominenter (u.a. Bogdan Roscic, Josef Hader, Stella Rollig, Michael Haneke), die um die Eigenständigkeit des Senders fürchten, folgte sogleich ein Beruhigungs-Statement der ORF-Führung, die verlautete, dass „weder die programmliche Vielfalt und Qualität von Ö1 gefährdet (sei) noch seine Identität, ganz im Gegenteil“.

Das kann man glauben oder auch nicht, Tatsache ist und bleibt, dass Ö1 mit seinen fast 800.000 täglichen Hörern landesweit ein internationales Unikum darstellt – und jedenfalls im deutschsprachigen Raum der mit Abstand erfolgreichste Bildungs-, Informations- und Kultursender ist (mit einem freilich auch nicht zu überhörenden Hang zu Didaktik und Weltverbesserung). Er ist im Laufe der Jahre aber auch zu einem veritablen Pop-Sender geworden – und das soll uns in diesem Medium naturgemäß am meisten interessieren.

Was vor mehr als 40 Jahren mit Jazz begann, als dieser langsam in den Klassik-Sender hinüberwanderte (u.a. aus Ö3 – man erinnere sich an Walter Langers legendäre vormittägliche Sendung „Vokal – Instrumental – International“!), wo Jazz heute fixe Sendeplätze hat und integraler Bestandteil des Musikprogramms ist, hat sich mittlerweile auch mit Pop vollzogen. Wolfgang Kos’ „Popmuseum“, viele Jahre auf Ö3 beheimatet, hat 2016/17 (nach Kos’ Karriere als Direktor des WienMuseums) kurzzeitig Auferstehung auf Ö1 gefeiert – und wird das heuer im Sommer, im Juli und August, jeweils am Montag um 16.05 Uhr wieder tun.

Nach Jazz hat auch Pop längst Eingang im Kultursender gefunden.

Aktuell gibt es zwar kein eigenständiges Popformat in dem Kultursender, dafür ist Popmusik sozusagen ins allgemeine Programm diffundiert und taucht – auch ohne eigenes P-Mascherl, als selbstverständlicher Bestandteil gegenwärtigen musikalischen Schaffens – in unterschiedlichsten Sendungen auf. So sind etwa die „Spielräume“ (ab 17.30 Uhr unter der Woche) oftmals für Pop-Neuerscheinungen geöffnet (wie etwa den Alben von Vampire Weekend oder der österreichischen Sängerin Christl kürzlich). Mitunter gibt es an Sonntagen (ab 17.10 Uhr) auch „Spielräume spezial“, die einer Band oder einer Pop-Künstlerin (wie Patti Smith heuer am 6. Juni) gewidmet sind. Und es gab schon mehrstündige Nacht-Spezialausgaben, wie etwa über das Gesamtwerk von Jethro Tull im Vorjahr.

Aus naheliegenden generationsspezifischen Gründen besteht das Gros der auf Ö1 (re)präsentierten Popkultur aus, sagen wir einmal, edler Pop-Klassik (und ist somit dem Geschmack der längst in den Sender hineingewachsenen Boomer-Generation angepasst und verpflichtet). Das zeigt sich etwa auch in einem Format wie „Le Week-End“ (Samstag, ab 13 Uhr), dem radiophonen Duett von Elke Tschaikner und Christian Scheib, in dem immer wieder Pop-Altvordere wie Bob Dylan, Tom Waits oder Prince auftauchen (wie etwa zuletzt in der Kombi mit Nina Simone – an deren beiderlei Todestag, dem 21. April), während im „Radio-Kolleg“ (von Montag bis Donnerstag, jeweils ab 9.05 Uhr) Pop auch in zeitgenössischen Stil- und Spielformen etabliert ist. So ist das „Lexikon der österreichischen Popmusik“ (von Ambros bis Zawinul, mit ständig neuen Sound-Einträgen) längst zu einem (ge-)wichtigen Kompendium der Austro-Szene geworden.

Einer der Gestalter von „100 Songs“: Robert Stadlober. (Foto: ORF/Schimmer)

Neueste Errungenschaft im „Radiokolleg“ (und auch als eigenständiger Podcast) ist die Serie „100 Songs – Geschichte wird gemacht“, die jeweils ein Lied im weitesten Pop-Sinne (dazu gehören auch „Lili Marlen“ oder „Pata Pata“ von Miriam Makeba) vorstellt, also in seiner individuellen Genese nacherzählt, aber auch als Ausdruck sozialer Gegebenheiten reflektiert. Die Gestalter, Stefan Niederwieser und der Schauspieler, Musiker und Siluh-Labelmitbegründer Robert Stadlober, nähern sich auch aktuellen Songs, wie zum Beispiel „Bad Guy“ von Billie Eilish, und bündeln ihr Wissen samt Soundschnipseln zu kompakten Hör-Einheiten.

Ein besonders erfreulicher Pop-Zuwachs ist das „Album der Woche“ in der letzten Viertelstunde der Sachbuchsendung „Kontext“ (Freitag, ab 9.05 Uhr), in der seit Februar ausgewählte Neuerscheinungen aus den Bereichen Singer/Songwriter, Folk, Blues und Worldmusic präsentiert werden (zuletzt u.a. die Alben von Norah Jones, Adrianne Lenker oder Tom Odell, die teils auch auf dieser Plattform berücksichtigt wurden).

Und selbst im morgendlichen, weitgehend klassischen E-Musik-Häppchen vorbehaltenen Feinkostladen „Pasticcio“ (ab 8.20 Uhr) wird dann & wann ein gut abgehangenes Pop-Filetstück feilgeboten, sei’s von Marvin Gaye, Mel Tormé oder Laurie Anderson (drei Beispiele aus den vergangenen Wochen). Oder eine Moderatorin überrascht mit ihrer persönlichen Neuentdeckung, der britischen Band Elbow. Die gibt es zwar schon seit mehr als 20 Jahren (ihr erstes Album, „Asleep In The Back“, erschien 2001), aber für Elbow ist es nie zu spät (auch wenn ihr neuestes Album, „Audio Vertigo“, leider nicht mit der Qualität früherer Werke mithalten kann). Wobei einem in der Früh, Pop hin oder her, wahrscheinlich ein Geigenbogen – nicht nur akustisch – allemal sympathischer ist als ein noch so gediegener Ellenbogen…

Medien-Kunde

Pop diffundiert quer durchs musikalische Angebot von Ö1 (Foto: ORF)

Das Gros der auf Ö1 (re)präsentierten Popkultur besteht aus edler Pop-Klassik und ist somit dem Geschmack der längst in den Sender hineingewachsenen Boomer-Generation angepasst und verpflichtet