Tote Touristen als Namensgeber für Bier

Angespannt gibt sich Dan Boeckner, Gitarrist des famosen kanadischen Quartetts Wolf Parade, auf seinem ersten echten Solo-Album

Von
12. März 2024

Boeckner: Boeckner! (Sub Pop Records)

In den frühen Nuller Jahren ereignete sich, heute schon so gut wie vergessen, das „kanadische Pop-Wunder“. Im weiten Land im Norden des amerikanischen Kontinents, dem seit jeher der freundliche Ruf einer euroapaffineren, kultivierteren Alternative zur benachbarten kulturellen Hegemonialmacht USA anhaftet, trieb Indie-Pop und -Rock die schönsten Blüten im Kosmos der Populärmusik. Der Erfolg von Arcade Fire aus Montreal war der sichtbare Widerschein dieses Mirakels, seine Wurzeln aber lagen in kreativen Netzwerken, die sich um Bands im ganzen Land gebildet hatten. Da war etwa in Toronto das Kollektiv Broken Social Scene, aus dem die bemerkenswerte Kunst-Pop-Band Stars oder die als Solo-Künstlerin erfolgreiche Liedermacherin Leslie Feist hervorgingen. In Vancouver formierten sich drei Singer/Songwriter – Neko Case, Dan Bejar und A.C. Newman – zur Indie-„Supergroup“ New Pornographers, ohne ihre solistischen Aktivitäten aufzugeben oder sich die Gründung eigener, profilierter Formationen (Bejars Destroyer) zu versagen.

Ursprünglich ebenfalls aus British Columbia (Victoria) kommen Wolf Parade, deren musikalische Sozialisation aber so wie jene von Arcade Fire in Montreal erfolgte. An diesem exzellenten, zwischen Euphorie und Paranoia stürmenden Quartett um die beiden Sänger und Songschreiber Spencer Krug (keys) und Dan Boeckner (git) sind nicht nur die eigenen LPs, insbesondere „Apologies to the Queen Mary“ und „Expo 86″ (2010), bemerkenswert, sondern auch ihre weitverzweigten Aktivitäten in anderen Bands: Krug, der nebenher schon drei Solo-Alben herausgebracht hat, agiert(e) u.a. bei Fifths of Seven, Frog Eyes, Sunset Rubdown, Moonface, Swan Lake; Boeckner bei Atlas Strategic, Handsome Furs, Divine Fits, Operators und Fortune Kit. Nun veröffentlicht er im Alter von 46 Jahren seinen ersten Longplayer unter eigenem Namen, so schlicht wie nachdrücklich „Boeckner!“ betitelt. Der einzige kleine Makel des Einstands ist die etwas knausrige Spielzeit von 32 Minuten.

Dan Boeckner, ein wenig agitiert. Foto: Alison Green

Bei Wolf Parade gibt Boeckner mit seiner gewissen Affinität zu klassischem Rock´n´Roll-Sentiment und etwas ausgeglichenerer Gangart eine Art Gegenpol zum aufgedrehten, scheinbar permanent unter Strom stehenden Krug. Und so überrascht die fast das ganze Album durch unterschwellig spürbare nervöse Anspannung seines Solo-Debüts. Was Boeckner in „Euphoria“ beklagt, nämlich dass er Zustände von Euphorie nie festhalten kann, das scheint auch für die ruhigeren Momente dieses Albums zu gelten: Um sie herum lauert ein latenter Drang, auf- und beizeiten auch durchzudrehen.

In einigen der besten Songs, dem genannten „Euphoria“, „Holy Is The Night“, aber auch „Return To Life“ und dem popklassisch anmutenden „Dont worry Baby“ bauen sich Tonnen von aufbrausenden Gitarren und Synthesizern zu Phil-Spector-würdigen Soundwänden auf, während der quirlige Opener „Lose“ und „Dead Tourists“, ein weiteres Highlight der von Synthis aller Schattierungen zwischen verwehter Fragilität und fakeorchestralem Pop geprägten und von Gitarren mehr interpunktierten als geführten Platte, Echos von New Wave, ungefähr die Richtung Talking Heads, Magazine, frühe Ultravox, aussenden.
Die latente Nervosität der Musik korrespondiert dramaturgisch schlüssig mit den Inhalten. Gemütlich oder gar eskapistisch ist hier genau gar nichts.

Boeckner, laut eigener Aussage ein Sozialist am Rande des Kommunismus, beschäftigt sich mit dem Schwinden von Wahrnehmungen und Bindungen, mit Entfremdung, mit Hoffnung und Desillusion. Dabei produziert er abenteuerliche Sprachbilder – „You live a life so frictionless/like an airport lounge or a liar’s kiss“, phantastische Szenarien von „days of wine and roses under the waves“ (eines Ozeans), entwirft lustige Visionen von toten Touristen, die als Namenspatrone für lokales Bier taugen, grübelt über Vergänglichkeit und versucht letztlich, seinen Frieden mit existenziellen Widersprüchen zu finden. Ganz klar kommt im letzten, wunderschönen Track „Holy Is The Night“ eine Erlösungssehnsucht zum Ausdruck – deren Erfüllung indes in keinerlei Weise konkret abzusehen ist: „There must be / a trick to living / that we’ve both forgotten.“

Aus datenschutzrechtlichen Gründen braucht YouTube eine Zustimmung, um geladen zu werden. Für weitere Information, bitte unsere Datenschutzerklärung lesen.
Inhalte laden

 

Boeckner: Boeckner! (Sub Pop Records)

Die latente Nervosität der Musik korrespondiert mit den Inhalten. Gemütlich oder gar eskapistisch ist hier genau nichts.