Traumlandschaften
Vergleichsweise ruhig, bisweilen fast meditativ, gibt sich der ehemalige Sonic-Youth-Sänger und -Gitarrist Thurston Moore auf seinem Solo-Album „Flow Critical Lucidity".
1982 waren Sonic Youth gemeinsam mit Swans bei der sogenannten „Savage Blunder Tour“ unterwegs und gaben unter anderem Konzerte in Baltimore, Washington und Atlanta. Teile dieser Auftritte sind auf dem Live-Album „Sonic Death“ zu hören, und die Live-Version des Stooges-Covers „I Wanna Be Yr Dog“, das bei einem Konzert in Raleigh aufgenommen wurde, schaffte es auf das „Confusion Is Sex“-Album. Für dieses steuerte Michael Gira, Mastermind der Swans, die Lyrics für den Song „The World Looks Red“ bei, die er 2016 auch für das Swans-Album „The Glowing Man“ („The World Looks Red/The World Looks Black“) verwendete. Thurston Moore, Sänger, Gitarrist und wohl auch Primus inter pares bei Sonic Youth, unterstützte seinerseits Swans bei Material, das sich später auf dem Album „Body To Body, Job To Job“ finden sollte.
Was das mit dem neuen Thurston Moore-Album „Flow Critical Lucidity“ zu tun hat? „We Get High“, einer der interessantesten Moore-Songs der letzten Jahre, klingt weit näher an Swans, als dass man ihn im Sonic Youth-Universum vermutet hätte.
Ansonsten wandelt Moore auf recht vertrauten Pfaden. Während seine frühere Lebensgefährtin und Band-Kollegin Kim Gordon auf ihrem letzten Album („The Collective“) so klingt, als hätte sie intensiv mit Industrial geflirtet, verweilt Moore bei Bewährtem.
Musikalisch erinnert „Flow Critical Lucidity“ zum Teil an die Sonic-Youth-Alben „Murray Street“ und „Sonic Nurse“, thematisch hingegen geht es um Distanz und Nähe zur Natur. Die Verweise auf ökologische Themen – explizit in „Rewilding“, auf die gleichnamige britische Bewegung Bezug nehmend – und die Entschleunigung mögen vielleicht auch dem Umstand geschuldet sein, dass Moore an einem sogenannten Vorhofflimmern leidet.
Im letzten Jahr erschien Moores Autobiographie „Sonic Life“, acht Jahre nachdem Kim Gordon ihrerseits ihre Sicht der Dinge in ihren Memoiren „Girl in a Band“ dargelegt hatte. Moore hatte Kim Gordon 1980 in New York City kennengelernt, als er noch bei The Coachmen spielte. 1981 gründeten Moore, Gordon und Lee Renaldo Sonic Youth. Schlagzeuger Steve Shelley kam 1985 anstelle von Bob Bert in die Band.
Gordon, Jahrgang 1953, und Moore, Jahrgang 1958, heirateten 1984; 1994 kam die gemeinsame Tochter Coco Gordon Moore zur Welt, zu sehen auch in den Videos zu den Singleauskopplungen „Bye Bye“ und „I’m a Man“ von Gordons neuem Album; 2011 trennten sie sich wegen einer damals schon mehrere Jahre währenden Affäre Moores. Sonic Youth löste sich auf.
Wegen seiner Herzprobleme sagte Moore seine Lesetournee 2023 ab. Die Erfahrung eigener Fragilität mag für die Stimmung von „FCL“ nicht ganz unerheblich gewesen sein. Gegenüber dem spielfreudigen, stellenweise experimentell ausufernden Vorgänger „By The Fire“ von 2020 – das 2021 erschienene, introvertierte, leicht versponnene Instrumentalalbum „Screen Time“ ist hier beiseite gelassen – klingt Moore ruhiger, fast meditativ.
Das Album, dessen Cover ein Helm ziert, in dem Stimmgabeln stecken, ein Kunstwerk von Jamie Nares mit dem Titel „Samurai Walkman“, wurde in Moores jetziger Wahlheimat London aufgenommen. Das Personal entspricht im Wesentlichen dem von „By The Fire“: Deb Googe (My Bloody Valentine) am Bass, an den Drums Jem Doulton (Róisín Murphy), James Sedwards (Nøught) an der Gitarre und Jon Leidegger (Negativland) kümmert sich um die Elektronik. Nur Shelley ist nicht wieder mit von der Partie. Die meisten Texte stammen von Eva Prinz aka Radieux Radio, dem Grund der Trennung von Moore und Gordon und Moores Lebensgefährtin, mit der er auch einen Buchverlag betreibt, die Ecstatic Peace Library.
Neben der Natur ist, etwa in „New In Town“, Neuorientierung ein Thema – versinnbildlicht durch Nennung von Bands wie Bad Brains, Fugazi, Youth Brigade oder Red C, die in den späten 1970er wie 1980er Jahren frischen Wind in die Punk/Hardcore-Szene brachten. „Hypnogram“ hingegen reicht ins Reich der Träume, wie überhaupt das Album wie von Traumlandschaften durchzogen wirkt. Wie hieß es einst bei Calderón de la Barca? „Nichts Ewiges kann das Glück uns geben, Denn flüchtiger Traum ist Menschenleben, Und selbst die Träume sind ein Traum!“ Diese Sentenz könnte auch als Motto für Moores neuntes Album herhalten, das mit seiner fließenden Atmosphäre jenen Traum zu Tonkunst verdichtet.
Die Erfahrung eigener Fragilität mag für die Stimmung von Thurston Moores neuem Album nicht ganz unerheblich gewesen sein