Ultimativer Insel-Song
Mit dem avantgardistischen Album „Starsailor“ verstörte der vom Folk kommende Singer-Songwriter Tim Buckley Publikum, Kritik und Musik-Business. Ein Titel davon, „Song To The Siren“, hat aber Legionen namhafter Musiker zum Nachspielen inspiriert.
Tim Buckley hatte kein besonderes Glück mit dem, was er geschaffen hat. Als Musiker zeit seines 28 Jahre langen Lebens vom breiten Publikum ignoriert und selbst von Kennern eher angestaunt als bewundert, ist er heute in erster Linie als das bekannt, als was er am schleißigsten war: als Vater.
Als Vater des Alternative-Rock-Idols Jeff Buckley.
Seine Leibesfrucht hat er, anders als seine Musik, definitiv vernachlässigt: Als Jeff geboren wurde (November 1966), war er bereits von dessen Mutter geschieden und hatte den gemeinsamen Haushalt verlassen. Ein einziges Mal, 1974, sah er seinen Sohn, da war dieser acht Jahre alt.
Bleiben als Gemeinsamkeiten eine jeweils 5 Oktaven umfassende Stimme und ein absurder, früher Tod. Jeff Buckley ertrank, 30 Jahre alt, am 30. Mai 1997, als er bei Memphis vollbekleidet in den Wolf River schwimmen ging und von den Wellen eines vorbeifahrenden Lastenkahns unter Wasser gedrückt wurde.
Sein Vater, in Washington DC geboren, aber größerenteils in Kalifornien aufgewachsen und lebhaft, starb in L.A. nach dem Ende einer Kurz-Tour an einer kombinierten, durch Überdosierung hervorgerufenen Alkohol-Heroin-Vergiftung.
Die grausame Ironie dabei war, dass Buckley sich nach Jahren von Exzessen und erratischem Benehmen ausgenüchtert hatte und sich rundherum als verträglicher Zeitgenosse präsentierte. Er fuhr keine Zuschauer mehr an, wenn sie alte Songs hören wollten, war nett zu Mitmusikern und Presse und bemüht, so gut es halt ging den Erfordernissen des Musik-Business Genüge zu tun.
Zum Tour-Abschluss mit einem einem ausverkauften Gig vor 1.800 Menschen in Dallas genehmigte er sich indes ein paar Drinks. Nach L.A. zurückgekehrt, schniffte er bei einem Freund unverschnittenes Heroin. Sein Körper, der Gifte bereits entwöhnt, stieß den Stoff ab. In der Notaufnahme des Santa Monica Hospitals wurde in den Abendstunden des 29. Juni 1975 sein Tod festgestellt.
3-Phasen-Karriere: Folk – Avantgarde – Sex-Funk
Tim Buckleys Karriere lässt sich in drei Phasen einteilen: eine frühe von 1966 – 1969 als Folk-Troubadour, eine avantgardistische Periode 1969 – 1970 mit den beiden Riesen-Werken „Lorca“ und „Starsailor“, und eine letzte Strecke als sexbesessener Funkster von 1972 bis zum bitteren Ende.
Die einzelnen Abschnitte sind relativ leicht zu distinguieren. Phase 1 ließ sich durchaus erfolgsversprechend an, brachte auch einige anrührend-gefühlige Balladen („Phantasmagoria In Two“) hervor und die Longplayer „Goodbye And Hello“ und „Happy Sad“ sogar in die unteren Ränge der Billboard 200.
Phase 2, die alles in Frage stellte und oft auch außer Kraft setzte, was mit herkömmlichen Songstrukturen und Sinnvermittlung via Songtexten zu tun hatte, ist seine abenteuerlichste und entfremdete ihn vorhersehbarerweise seinem bisschen Publikum.
In Phase 3 fällt Buckleys bekannteste LP, nämlich „Greetings From L.A.“ (1972), aber grosso modo gilt sie als seine schwächste (wenngleich weniger begabte Künstler selbst mit einem überproduzierten „Sefronia“ und dem Latino-Soul-Funk von seinem letzten Album „Look At The Fool“ noch immer ganz gut gelebt hätten).
Das bekannteste Lied stammt vom „schwierigsten“ Album
Obwohl Phase 2 naheliegenderweise Tim Buckleys unzugänglichste Schaffensperiode ist, fällt in sie sein bekanntestes und mit Abstand meistgecovertes Lied: „Song To The Siren“.
Das Stück beeendet die erste Seite der LP „Starsailor“, die nach kurzem Einpendeln mit wilden, durchgedrehten, manchmal wie Jodeln, nicht selten wie Ziegengemecker, bisweilen wie Urschreie klingenden Stimmverrenkungen, der grandiosen, scheinbar alle Stile gleichzeitig umspannenden Gitarre Lee Underwoods, komplexen, eindeutig mehr am Jazz denn am Rock orientierten Rhythmusverschiebungen und einer wohl von Miles Davis inspirierten Trompete auffährt. (Hier eine seltene Live-Performance des Eröffnungs-Tracks „Come Here Woman“ aus dem VÖ-Jahr 1970).
„Song To The Siren“ als Abschluss von Seite 1 aber repräsentiert die Signifikanten des Albums auf einer halbwegs normalverbrauchertauglichen Ebene: die Auflösung herkömmlicher Songstrukturen, diesfalls im Zusammenwirken von fehlender Rhythmusachse, expressiver Soundscape und eindringlich-emotionaler Gesangsperformance – immerhin aber noch kontextualisiert von einer richtigen Melodie.
Geschrieben wurde das Lied über die gefährlichen Verlockungen der Sirenen von Buckley und Larry Beckett, der viele seiner Songs getextet hat, bereits 1967. Ursprünglich ist es ein ganz normaler Folk-Song von der eingängigen Art, wie sie Buckley damals eben produzierte, und als solcher wurde er vom Sänger auch im März 1968 solo bei einer TV-Show der eigens für das Fernsehen gecasteten Band The Monkees performt.
Bemerkenswerterweise ist die erste auf Platte aufgenommene Version nicht von Buckley selbst, sondern von einem, den man in diesem Umfeld als ungefähr Allerletzten vermutet hätte: dem Schlager- und Country-Sänger Pat Boone, Sinnbild des religiösen, konservativen Amerika und überhaupt ungefähr allem, was die Hippie-Kultur verabscheute. Allerdings hat Boone auch Sympathien für die Bürgerrechtsbewegung bekundet und sich als entschiedener Gegner des südafrikanischen Apartheit-Regimes deklariert.
Wenn auch dämlich eingeleitet („Yo ho ho, and a bottle of rum!“), ist Boones orchestral aufgepeppte Fassung nicht ohne Kompetenz arrangiert und durchaus ordentlich gesungen.
Eines der Kuriosa um „Song To The Siren“ ist, dass es unter den rund 80 auf Platte oder per Live-Mitschnitten auf YouTube dokumentierten Fassungen fast nur gute oder wenigstens akzeptable gibt. Einzig Sally Oldfield hat es 1996 geschafft, den Song mit ihrem schrecklich outrierten Gesang zu verhauen.
Boones Single von 1969 ist noch aus einem anderen Grund historisch: Hier heißt es – wie auch bei Buckleys TV-Performance – in der dritten Strophe noch „I´m as puzzled as the oyster“. Weil sich die Sängerin Judy Henske bei einer Privat-Vorführung bei dieser Stelle vor Lachen nicht einkriegte, änderte Buckley die Zeile in „I´m as puzzled as a newborn child“. Das (Lachen) war übrigens auch der Grund, warum er der Song drei Jahre lang nicht aufgenommen hat.
Auch noch in der Version von „Starsailor“ verzichtet Buckley auf Drums. Sein Gesang aber schwankt nun zwischen tiefem Grollen, Sehnsucht und einer scheinbar latent zum Auszucken bereiten Anspannung; eine nachhallende E-Gitarre scheint über Wasser zu schlittern und im Hintergrund verbreiten Schallwellen, von denen man nicht sicher weiß, ob sie durch hochgepitchte Stimmen, Keyboards oder Gitarreneffekte erzeugt worden sind (und die durch das ganze „Starsailor“-Album ziehen), das ungemütliche Gefühl gefährlicher Winde, Strudeln, verbotener Lockungen.
Während die LP „Starsailor“ – so wie eigentlich auch Tim Buckley als Künstler – im Prinzip ein Unikum blieb und (bis jetzt) keine nennenswerte Sogwirkung auf die Populärmusik ausgestrahlt hat, hat „Song To The Siren“ ein Eigenleben entwickelt.
Im Herbst 1983 wird seine Geschichte neu geschrieben.
Mit This Mortal Coil bekommt die Sirene Flügel
Ivo Watts-Russell, der Mitbegründer des angesehenen britischen Indie-Labels 4AD, formierte aus Künstlern aus seinem Stall ein vielköpfiges, personell versatiles, Projekt mit dem Namen This Mortal Coil, um Coverversionen und eigene Stücke einzuspielen. Dabei überzeugte er Elisabeth Frazer von den Cocteau Twins, seinen ultimativen Insel-Song – das war Buckleys „Song To The Siren“ nämlich – zu intonieren.
Diese in mehrerlei Hinsicht traumhafte Fassung löst und verschleiert die raue Kante von Buckleys in tiefen, melancholischen, sanften Strömungen, ohne aber die immanente Bedrohlichkeit des Songs ganz aufzugeben. Nur die Rollen scheinen sich verschoben zu haben: Wenn Buckley die Sirenen ansingt, so ist Frazer die gefährliche Verlockung selbst.
Die Version von This Mortal Coil wurde als Single aus der LP „It´ll End In Tears“ ausgekoppelt, verbrachte zwei Jahre in den britischen Indie-Charts, verkaufte über eine halbe Million Exemplare und tauchte über zehn Jahre später in David Lynchs Film „Lost Highway“ prominent wieder auf.
Anders als etwa in der Geschichte der Mörderballade „Hey Joe“, von der es verschiedenartigste Versionen in unterschiedlichem Tempo gibt, folgen mindestens 95 Prozent der Bearbeitungen von „Song To The Siren“ der getragenen Gangart des Originals und der This-Mortal-Coil-Version. Die paar schnelleren Versionen, etwa die Dancefloor-Fassung von Lost Witness, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.
Auffällig ist weiters, dass die Welle an Coverversionen von „Song To The Siren“ erst ab der Milliniumswende richtig hochschwappt. Bis dahin waren es noch immer nicht mehr als um die zehn Adaptionen, seither aber haben Scharen namhafter und großer Interpreten das Lied neu zu deuten versucht: The Czars mit Sänger John Grant, Robert Plant, Bryan Ferry, Red Hot Chili-Peppers-Gitarrist John Frusciante, Damon & Naomi, David Gray, Sinéad O´Connor, George Michael, Wolf Alice, Mick Harvey oder erst im letzten Jahr Garbage, um nur einige zu nennen.
Eine 74 Versionen umfassende Aufzählung ist auf der verdienstvollen Website SecondHandSongs aufgelistet, diese Seite bietet auch den Service eines User-Rankings der einzelnen Versionen. Diese Rangliste kann man mit gut ausgeprägtem Sensorium für Absurdität lustig, sonst bestenfalls eigentümlich finden.
Zwar überrascht es nicht, dass This Mortal Coil diese Wertung anführen, ebensowenig der zweite Platz für den Komponisten Buckley mit seiner Solo-Live-Fassung bei der Monkees-TV-Show. Dass Buckleys originale Plattenaufnahme von „Starsailor“ aber nur auf Rang 19 rangiert – 11 Plätze z.B. hinter der Fassung Pat Boones und 10 hinter jener von Sally Oldfield -, wirkt schon irgendwie etwas dings.
Auffällig ist, dass die Welle der Coversversionen erst in diesem Millenium richtig hochschwappt.