Utopisches Welttheater

Das Wiener Frauen-Trio Zinn inszeniert auf seinem zweiten Album großes Drama in verdichteten Soundscapes

Von
11. März 2024
Zinn

Zinn: Chtuluzän (Staatsakt)

Das Jahr 2024 ist gerade einmal knapp drei Monate alt und hat schon drei Klasse-Produktionen aus Österreich hervorgebracht. Gut, das muss bei den Namen, die dafür verantwortlich zeichnen, nicht überraschen: Endless Wellness sind vor ihrem LP-Debüt „Was für ein Glück“ ein gehöriger Hype und mehrere Singles vorausgeeilt. Ja, Panik repräsentieren die Champions League kontemporärer deutschsprachiger Rock-Musik. Und das Wiener Frauen-Trio Zinn hat bereits mit seinem Debüt-Album 2021 Aufmerksamkeit erregt – was heute übrigens praktisch gleichbedeutend ist mit: viel Anerkennung in Deutschland gefunden. Dass für den Label-Waschzettel zum neuen Zinn-Album „Chtuluzän“ kein Geringerer als just Ja, Panik-Kopf Andreas Spechtl die Liner Notes verfasst hat, rundet dieses Bild nur zu passend ab. Ebenso wie dass die große Essener Band International Music mit einem stimmigen Gastauftritt vorstellig wird.
Es frappiert zunächst, wie stark sich „Chtuluzän» vom titellosen Erstling unterscheidet. Das hat indes einen zwingenden inhaltlichen Grund: Der sperrige Titel geht zurück auf die US-amerikanische Philosophin Donna Haraway und bezeichnet bzw. postuliert das Zeitalter nach dem Anthropozän, in dem sich der Mensch nicht mehr wie bisher in aller raffgierigen Bestialität über alle anderen Kreaturen und Wesenheiten zu erheben anmaßt, sondern sie als echte, gleichwertige Partner anerkennt. Ein an die Grundfesten der menschlichen Existenz/Menschlichkeit rührendes Thema also, zu dem der fast aufreizend lässig in Szene gesetzte, von flockigen Gitarren getriebene und von knackiger Trompete interpunktierte, im Dialekt intonierte Indie-Pop/Rock von vor drei Jahren nicht mehr wirklich passt.
Stattdessen bauen sich – nicht selten mit bedrohlichem Unterton – Streicherwände auf, flirren Synthesizer wie Irrlichter und streifen flächige Bläser durch verdichtete Soundscapes. Der Grundton ist dramatisch verschärft – und wenn Sängerin, Texterin und Gitarristin Margarete Wagenhofer stimmlich ordentlich anzieht, sind Zinn für Momente nicht weit weg von der legendären US-Frauenband Sleater-Kinney.

Drastische Tempo-, Stimmungs- und Intensitätswechsel: Zinn Foto: Apollonia Theresa Bitzan

Drastische Tempo-, Stimmungs- und Intensitätswechsel: Zinn Foto: Apollonia Theresa Bitzan

Auch der Sprachduktus hat sich geändert: Statt im Dialekt werden die Inhalte auf Hochdeutsch bzw. fallweise Denglisch transportiert, der eröffnende Quasi-Titelsong „Chtulucene“ ist, vielleicht auch als Hommage an die Autorin Haraway, rein englisch intoniert. Die gewisse spielerische Spottlust, die sich durch das Debüt des Trios gezogen hat, schlägt durchaus noch an einigen Stellen durch. Und gerade dort, wo es an die Urübel unserer Gesellschaft geht, kann sie auch wirklich beißend werden. „Vom Bedürfnis der Überlegenheit / wirst du für immer befreit“, heißt es etwa in einem direkt an die Spezies Mann gerichtetem Abgesang auf das Patriarchat. Auch für „Das Kapital“, unser aller Movens und Nervengift in einem, findet Wagenhofer die treffenden Worte: „Spürst du das Kapital? / es ist überall / du atmest es ein / es atmet dich aus“.
Grundsätzlich aber versucht „Chthuluzän“, sich in Haraways Welt einzurichten. Tieren, die der Durchschnittsbürger nicht als Hausgenossen haben möchte, gehört hier genauso viel Zuwendung wie bedrohten Pflanzen und durchaus auch Maschinen: „Maschine klag und protestier’ / über so viel Arbeit“.
Die Musik verbündet sich mit dieser Welt. Damit übersteigt sie, ohne je auch nur im Geringsten überambitioniert oder gar kunstgewerblerisch anzumuten, wesenhaft die Grenzen dessen, was im landläufigen Sinn Pop ausmacht. Drastische Tempo-, Stimmungs- und Intensitätswechsel matchen sich mit ergreifender Melancholie, Verspieltheit und Schönheit, dick aufgetragene Manierismen kontrastieren mit Passagen ebenmäßigen Flusses. Und alles zusammen generiert ein Spannungsfeld voll unberechenbarer Dynamiken. Formal ist das Ganze einem Hörspiel nicht unähnlich – „utopisches Welttheater“ träfe es aber eigentlich auch ganz gut …

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Zinn: Chtuluzän (Staatsakt)

Die Musik übersteigt, ohne überambitioniert oder gar kunstgewerblerisch anzumuten, wesenhaft die Grenzen dessen, was im landläufigen Sinn Pop ausmacht.