Was uns die Schuhe auszieht
Einmal weggedreht und alsgleich türmt sich ein riesiger Haufen mit erstklassigen Produktionen aus Österreich auf: Der erste Teil einer Rundschau auf heimische Veröffentlichungen aus dem letzten halben Jahr.

Der begeisternde Schmusechor (bzw. ein Teil seiner rund 40-köpfigen Belegschaft) unter Dirigentin Verena Giesinger (© Hanna Fasching)
2023 war der 50. Todestag Ingeborg Bachmanns. Dies zum Anlass nehmend, hat die Musikerin und Performancekünstlerin Katarina Maria Trenk, bekannt u.a. von Euroteuro, unter ihrem Kürzel KMT mit den Musikern Alexander Kranabetter und Werner Thenmayer im Spätherbst 2024 eine famose Vertonung von Bachmanns Gedicht „Die Welt Ist Weit“ (Big Cake Records) aufgenommen: sphärisch, klangfarbenreich, nicht ohne Dynamik – und superb gesungen.
Ziemlich fleißig war über die letzten Monate hinweg die queere Linzer Künstlerin kleinabaoho. Nicht nur, dass sie eifrig durch Deutschland und Österreich tourte, hat sie auch ihr Repertoire um mehrere Songs bereichert. Dabei lässt die nun in Wien lebende Sängerin und Gitarristin in ihren akustischen Balladen mit sanften Synthie-Flächen oder auch behutsamen Stimmverfremdungen wie in der Beziehungs-Nummer „ikea“ ein zartes Herz für Elektronik spüren.
Von diesem Song, „ikea“, hat Patrick Tilg alias tilg, In-House-Producer von kleinabaohos Label Feber Wolle, einen schnellen Remix angefertigt – und siehe da, der aufgekratzte Electro-Dance-Pop-Sound steht der aufstrebenden Songwriterin auch vorzüglich.
Bei der Doppelsingle „emma / verlierer“ frönt kleinabaoho wieder der in getragenem Tempo arrangierten Melancholie. Beiden Songs gemein ist allerdings eine dramaturgische Zuspitzung – in Form eines Wall Of Sound, der sich am Ende von „emma“ auftürmt, oder – fast noch beeindruckender – einer dramatischen melodischen Wendung und Verschleppung im Refrain des ergreifenden „verlierer“.

Auf dem Vormarsch: kleinabaoho (© Leonie Zettl)
So wie kleinabaoho ist auch RIO OBSKUR, hinter der sich die vielseitige, unter mehreren Monikern agierende Musikerin Marion Ludwig verbirgt, hier nicht das erste Mal zu Gast. Aber sie hat neue Stücke (selbstverlegt) aufzuwarten: Im langsamen „camera obscura“ erlangt Ludwigs tiefe, dunkle Stimme vor simplem Elektronik-Backing, in das sich am Ende schleifende Dissonanzen mischen, eine nachgerade beschwörende Eindringlichkeit.
Flotter, fast Dance-Pop-artig angelegt, gibt es Ludwig in „rückschritt, bitte“ – eine harsche Widerstandsbekundung gegen alles, was man sich selbst antun kann: Selbstoptimierung, selbst gestellte Überforderungen.
„mit einem tiger schlafen“ geht sie dagegen recht gelassen zu moderatem Electro-Beat an: Es ist ja auch weniger als Herausforderung denn als Schritt zur inneren Befreiung zu verstehen.
Auf gefühlvolle Folk-Pop-Balladen hat sich der Wiener Singer/Songwriter Tom Joseph (richtiger Name: Andreas Thomas Steiner) kapriziert. Gleich zwei davon bringt er diese Saison heraus, beide sind an Personen gerichtet – eine, die neuere und etwas schwungvollere, an „Romana“, die andere, elegischere, an „Elio“ (Feber Wolle).
Einen Amadeus als „Best Electronic Act“ hat das Duo Möwe bereits zu Buche stehen. Dazu sollen es Clemens Martinuzzi und Melanie Ebietoma auf 300 Millionen Streams gebracht haben. Ihre Single „Que Pasa“ (PIAS Élektronique) ist ein Dancefloor-Feger reinsten Wassers – „,Que Pasa‘ wird dich dazu bringen, mit den Hüften zu wackeln und dir das Gefühl geben, dass du deine Schuhe ausziehen möchtest“, versprechen die zwei nicht ohne realistische Berechtigung.
Feierlich, dezent & kühn
Exquisiten Pop-Rock mit offensiven Gitarren, sporadisch kammermusikalischem Einschlag und doch auch voller Spannung zelebriert Leonie Schlager als The Zew auf den vier Songs ihrer Debüt-EP „Zazel Wants To Fly“ (Numavi Rec.). „Zelebriert“ passt deshalb gut, weil Schlagers großartiger Stimme etwas Feierliches innewohnt. „Zazel“ war übrigens der Nom de Guerre der Zirkusartistin Rosa Matilda Richter, die mit einem Act als menschliche Kanonenkugel berühmt wurde.
Im März hat der Vorarlberger Singer/Songwriter Philipp Spiegl sein bereits zweites Studioalbum veröffentlicht. Der schöne Titel „Love Letters“ (Feber Wolle) indiziert es: die laute Form passt da nicht wirklich. Wohl leistet sich Spiegel in aller zu Gebote stehenden Lässigkeit rhythmische Brüche und überraschende Wendungen. Den Opener „Trieste“, um gleich einen Höhepunkt herauszugreifen, interpunktiert ein herrliches, ein bisserl mürrisch (wie aus dem Schlaf geweckt) klingendes Saxophon.
„Lamentations“ wiederum ist ein besonders langsames, leises, schönes Stück, das von der Ausstrahlung her fast Assoziationen zu Nick Drake zulässt (auch wenn Spiegls hell-klare Stimme in denkbar großem Kontrast zum verhangen-dunklen Timbre des frühverstorbenen britischen Genius steht).
Im Juni veröffentlichen die Styronauten – wo die herkommen, sagt der Bandname – ihr zweites Album „Norm“ (No Hit Wonder).
Das Besondere an dieser vierköpfigen Band ist, dass sie ohne Gesang agiert. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – des Verzichts auf solche „ordnenden“, bisweilen aber eben auch einschränkenden Strukturvorgaben ist die Musik reichhaltig wie ein überschwappendes Füllhorn. Beispielhaft vorgeführt auf „Organic“, der neunminütigen ersten Auskoppelung aus „Norm“: Über ein etwas monotones, aber animiert von Drums befeuertem Gitarren-Motiv legt sich wie insistentes Sägen eine Synthesizer-Schleife. Dann stoppt der Beat, reißt einen Graben aus Elektronik-Gefrickel und Experimentier-Sounds auf, nimmt in gemächlicherer Gangart wieder den Betrieb auf, um am Ende völlig in lärmigen Abstraktionen zu versanden. Kein Zweifel, etliche Kollegen wären hier schnell mit dem Begriff „Krautrock“ zur Stelle… ja eh.
Ein recht bemerkenswertes Drama im Country-Pop-Design liefert die Wiener Indie-Combo Potato Beach mit „That´s How I Got To Memphis“ (Siluh Rec.). Das Stück, ein Cover eines Songs des großen Country-Singer/Songwriters Tom T. Hall, erzählt auf tragikomische Weise von der Suche eines Mannes nach einer Frau in den Weiten Amerikas, kurioserweise aber führt auf der Suche nach möglichen musikalischen Ahnen auch eine Spur nach Linz: So lässig-abgeklärt-resignativ-beseelten Gesang hatten wir schon mal Mitte der 90er Jahre bei den McGregorys, die auch versucht haben, uns mittels Gitarren-Pop und selbstbewusster Intonation amerikanische Lebensart stilvoll beizubringen…
Und noch einmal Coverversionen von größtem Kaliber: Seit über 10 Jahren begeistert der 40-köpfige, queere Schmusechor mit im wahrsten Wortsinn stimmgewaltigen A-capella-Versionen sehr spezieller Songs.

Der Schmusechor bei SEINEM Neujahrskonzert (© Hanna Fasching)
Zum Beispiel „Everything Is In Its Right Place“ – ja genau, der sanfte, melodiöse Opener von Radioheads als wegweisend eingestuftem Werk „Kid A“. Noch bemerkenswerter ist freilich – dokumentiert auf einem tollen Live-Album – die Version von Miley Cyrus‘ „Flowers“, das mit seinem Drive, seinen mächtigen, gegen- und ineinanderlaufenden Stimmen zu einer unglaublich aufbauenden Hymne an die Vitalität wird. Der Fall, wo ein Allerweltssong eine ihm nicht immanente tiefe Bedeutung anzunehmen scheint. Wie das etwa vor vielen Dekaden und mit völlig anderer musikalischer und ideologischer Stoßrichtung Laibach mit Opus‚ „Live Is Life“ vorexerziert haben.
Fortsetzung alsbald.

Der begeisternde Schmusechor (bzw. ein Teil seiner rund 40-köpfigen Belegschaft) unter Dirigentin Verena Giesinger (© Hanna Fasching)
Miley Cyrus‘ Song „Flowers" infiltriert der Schmusechor mit einer tiefen Bedeutung, die ihm nicht wirklich immanent ist.