Wie blöd darf Musik sein?
Popmusik mit ausgeprägten intellektuellen Defiziten wird oft ohne fundierte sachliche Berechtigung als „lustig" empfunden. Drum prüfe sie, wer (allzu schnell) lachen will.
An dieser Stelle muss ich eine persönliche Erinnerung erzählen. Von einem Beinahe-Desaster, das sich in meinen Kopf eingebrannt hat.
Es war 2018, es ging um das Album „Blick“ vom Hamburger Musikkollektiv Station 17, das ich für die „extra“-Beilage der „Wiener Zeitung“ zu rezensieren hatte: Krautrock in der guten Tradition von Neu! oder den ganz frühen Kraftwerk, mit langen, fließenden Improvisationen und illustren Gästen (Andreas Dorau, Andreas Spechtl).
Und einigen recht mühsamen Passagen. Ich schrieb von „schwachsinnigem Genuschel“ gleich im ersten Song.
Da schlug Andreas Rauschal, der Musik-Verantwortliche des „extra“, Alarm und empfahl mir, doch die Promotion-Fotos genauer anzusehen.
Ich sah. Ganz klar leiden einige Mitglieder des Kollektivs am Down-Syndrom.
„Entmenschter Rezensent diffamiert inklusives Musik-Projekt!“ – das hätte sehr blöd ausgehen können. Ich führte (gravierende) Änderungen am Text durch. Ewig bin ich Andreas Rauschal zu Dank verpflichtet.
Seither hege ich ein wachsames, von einem gewissen Argwohn unterwandertes Sensorium für Musik, die einem blöd kommt. Nicht als marketingmäßig durchkalkulierter Schwachsinn wie „Live Is Life“ oder „Barbie Girl“. Sondern richtig blöd. G‘scheit blöd.
Wie „They´re Coming To Take Me Away Ha-Haaa!“ von Napoleon XIV aus dem Jahr 1966.
Zu stampfendem Rhythmus erzählt ein Mann in zunächst ruhigem, dann sich zu schrillem Kreischen aufschraubendem Sprechgesang, wie „nette junge Männer“ in „sauberen weißen Mänteln“ ihn abholen kommen, um ihn offensichtlich in eine Anstalt zu bringen.
Auf der B-Seite der Single ist übrigens alles andersrum. Der Song, für den VIX Noelopan verantwortlich zeichnet, ist verkehrt abgespielt und heißt „yawA eM ekaT oT gnimoC er’yehT“.
Vorsätzlich blöd ist nicht unheikel
Natürlich war das absichtlich blöd angelegt. Wird der Vorsatz spürbar, hat das, abgesehen davon, dass es die Lustigkeit beeinträchtigen kann, die problematische Folge, dass es relativ bald einmal in die Nähe der Diskriminierung kommt.
Schon das Stottern in „My Generation“ hat Kritik hervorgerufen. „They´re Coming To Take Me Away…“ eignete noch wesentlich größeres Konfliktpotential. Der Musikproduzent Jerry Samuels, der sich hinter Napoleon XIV verbarg und voriges Jahr im Alter von fast 85 Jahren gestorben ist, wappnete sich mit einem Twist im Text gegen vorhersehbare Vorwürfe, er verspotte Personen mit mentalen Beeinträchtigungen: Es stellt sich nämlich am Ende heraus, dass das Wesen, das dem Protagonisten davongelaufen ist und ihn dadurch in den Wahnsinn getrieben hat, keine Frau ist, sondern ein Hund.
Das wirkte schon insofern reichlich absurd, als vorher der vorgebliche Hund gelacht hat, als ihn der Ich-Erzähler auf Knien anflehte, doch bei ihm zu bleiben.
Und die Masche funktionierte auch nicht wirklich: Zahlreiche Radiostationen boykottierten – Frau hin, Hund her – das Lied nach Beschwerden von Behindertenorganisationen, mehr sogar noch von Pflegepersonal und Ärzten, die sich darin verunglimpft sahen.
Unabsichtlich blöd ist lustiger
Wesentlich lustiger und unverfänglicher als vorsätzlich blöd angelegte Stücke werden gemeinhin Werke empfunden, die offensichtlich ungewollt blöd ausgefallen sind. Hier können wir mit einem Prachtstück aus den Urtagen des Austropop – „Bobo“ von Inn Yard Performance (1972) – aufwarten:
Die Gründerzeit des Austropop hat noch so manch prächtige Skurrilität zu bieten, etwa den „Gummizwerg“ des singenden Malers Heinrich Walcher. Das folgende, in den schönsten Farben der Erbarmungswürdigkeit glänzende Exemplar ist allerdings von 1982 und schon ein bisserl abgefeimt.
Denn wirklich blöd ist „Mir ham´s mei Nummer g´stohln“ vom ehemaligen Milestones-Drummer und kurzfristigen Drahdiwaberl-Mitglied Norbert Kainz eigentlich nicht. Im Gegenteil, es schildert sogar recht clever, wie ein Musiker seinen eigenen Song als Hit eines anderen im Radio hört. Aber die – sowohl textliche wie auch musikalische – Inszenierung führt beispielhaft vor, wie eine Blöd-gelaufen-Geschichte ein Lied kapern kann, das man dann (im ersten Reflex) seinerseits als „blödes Lied“ begreift.
HGich.T, so wie Station 17 ein Kollektiv und ebenfalls aus Hamburg, sind wiederum vollwillentlich und vollinhaltlich blöd: Asozial, geschmacklos, unreif und bar jeder intellektuellen Reflexion huldigen sie zu stumpfen Techno-Beats und in rauschbeeinträchtigt klingendem Vortragsstil allem, was der gute Geschmack verbietet: billigem fahrbarem Untersatz (Mopeds), orgiastischen Parties, Komasaufen.
Ich hab HGich.T bisher ganz gerne gehört und wollte an dieser Stelle ihre neue Platte vorstellen. Da erfuhr ich durch Routine-Recherchen, dass Ende 2019 bei einem Auftritt in Leipzig ein fix zum Kollektiv gehörendes Crew-Mitglied eine 18-jährige Besucherin vergewaltigt hat.
Dafür hat sich die Band zwar offiziell in – sofern das überhaupt möglich ist – annehmbarer Form entschuldigt, der Täter wurde hinausgeworfen und gerichtlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Aber seither ist es mir nicht mehr möglich, in den Inhalten die oft recht aggressiven sexuellen Passagen – die ich übrigens schon seinerzeit und „unbefangen“ etwas grenzwertig fand – mit Humor zu nehmen. Oder als Humor zu sehen, um genauer zu sein. Das löst nur mehr Beklemmung aus. Da ist, um die Floskel zu bemühen, Schluss mit lustig.
Relativ bald einmal kann absichtlich blöd angelegte Musik an Diskriminierung anstreifen