Wie ein Menetekel
Zunächst erschien „Le vent nous portera“ von der französischen Band Noir Désir als herrliche Mischung aus Leichtigkeit und Melancholie. Nachdem Bandleader Bertrand Cantat seine Freundin Marie Trintignant erschlagen hatte, lasen sich manche Textzeilen der viel gecoverten Ballade aber wie düstere Vorahnungen.
Als 2001 das Album „Des visages des figures“ von Noir Désir erschien, war das einfach nur: das bis dato beste Album der damals aufregendsten französischen Rockband um den Sänger Bertrand Cantat und den Gitarristen Serge Teyssot-Gay. Die Punkeinflüsse der früheren Jahre waren hier fast gänzlich gezähmt, stattdessen war das innovative Rockmusik, die sich die unterschiedlichsten Stile produktiv einverleibt hatte: Indie, Folk, Chanson, Weltmusik. Und die in jedem Song die unterschiedlichsten Gefühlslagen vereinte: Wut, Trauer, Zärtlichkeit, Selbstgewissheit, Zweifel. Zwischen Sanftheit und Wucht lagen hier oft nur ein paar Takte.
Der vermutlich beste Song dieses Albums, der auch als Singleauskopplung erschien, war „Le vent nous portera“ – eine herrlich dahinfließende Mischung aus Leichtigkeit und Melancholie, getragen vom mitreißenden Gitarrenspiel von Manu Chao, der hier als Gastmusiker wirken durfte. Der Wind, der uns tragen wird – das war auch ein Versprechen auf eine großartige Zukunft für diese Band und ihre Fans.
Doch dann kam alles anders. 2003 geriet der charismatische Bertrand Cantat mit seiner damaligen Partnerin Marie Trintignant (aus der berühmten französischen Schauspielerfamilie) in einen heftigen Eifersuchtsstreit, in dessen Verlauf er sie so heftig schlug, dass sie das Bewusstsein verlor. Hilfe holte er erst am nächsten Morgen, doch Marie war so schwer verletzt, dass sie nach ein paar Tagen im Krankenhaus starb. Das Ganze passierte in Litauen, wo Marie Trintignant sich zu Dreharbeiten aufhielt. Dort wurde Cantat im März 2004 zu acht Jahren Haft wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Noch im gleichen Jahr wurde er in ein französisches Gefängnis verlegt, aus dem er im Herbst 2007 wegen guter Führung vorzeitig entlassen wurde.
Doch der Versuch, die Band Noir Désir wiederzubeleben, scheiterte. 2010 löste sie sich auf – offiziell wegen persönlicher und musikalischer Differenzen. Doch eigentlich war klar, dass man nach allem, was geschehen war, nicht einfach weitermachen konnte, als sei nichts passiert. Aus Cantat, dem Mann mit der großartigen vielgestaltigen Stimme, war in den Augen vieler ein hässliches Symbol männlicher Gewalt gegen Frauen geworden.
Ausgerechnet am 11. September 2001
Von den Ereignissen des Jahres 2003 her betrachtet, wirkte nun vieles wie ein Menetekel. Allein schon das „dunkle Verlangen“ des Bandnamens hatte jetzt einen unangenehmen Beigeschmack. Noch dazu war „Des visages des figures“ ausgerechnet am 11. September 2001 erschienen. Und viele Textzeilen lasen sich im Lichte des Geschehenen wie düstere Vorahnungen. Die hoffnungsvolle Leichtigkeit des Windes etwa verschwand im Rückblick hinter Wendungen wie „Tout disparaîtra“ (Alles wird verschwinden/vergehen), „Ce parfum de nos années mortes“ (dieser Duft unserer toten Jahre), „La caresse et la mitraille“ (die Zärtlichkeit und der Kugelhagel). Und was vormals wunderbar poetisch-kryptisch geklungen hatte, bekam nun einen unheilvoll prophetischen Beiklang: „Pendant que la marée monte / Et que chacun refait ses comptes / J’emmène au creux de mon ombre / Des poussières de toi /Le vent les portera“ (Wenn die Flut steigt / Und jeder seine Rechnungen aufmacht / Nehme ich deinen Staub in die Leere meines Schattens / Der Wind wird ihn verwehen).
„Des visages des figures“ sollte das letzte Studioalbum von Noir Désir bleiben. Doch der beste Song daraus lebt in zahlreichen Coverversionen fort. Die schönste wurde 2010 von Sophie Hunger eingespielt, ganz zart und zurückgenommen, leicht angejazzt und wunderbar um eine sanft klagende Trompete ergänzt. Erschienen ist der Song auf ihrem Album „1983″ – eine Hommage an das Jahr, in dem Noir Désir in Bordeaux gegründet wurde. Fast schon entrückt klingt die Variante von Scala & Kolacny Brothers, einem vielstimmigen belgischen Frauenchor, der auch sonst reichlich getragene Coverversionen im Repertoire hat (etwa von „Nothing Else Matters“ oder „With or Without You“), während die A-capella-Version der Charbonniers de l’Enfer fast so albern klingt wie der Name dieser fünfköpfigen Herrentruppe aus Kanada.
Nicht uninteressant sind die elektronischen Versionen, aus denen eindeutig jene des haitianischen Dub-Duos N’Didgenous herausragt. Bemerkenswert aber ist vor allem die Vielsprachigkeit der Anverwandlungen: Felix Meyer bietet eine kongeniale deutsche Übersetzung (während Element of Crime nur das französische Original covern), Herman Düne eine kaum mehr erkennbare Übernahme ins Englische (bei den Kroaten von Bonaster wird gleich der Sonnenwind draus), im Italienischen weht der Wind lediglich, und erstaunlicherweise ist sogar eine griechische Version im Angebot.
Am eindrücklichsten aber ist die Live-Einspielung, die Cantat selbst mit seinem Partner Pascal Humbert, zuvor Bassist von 16 Horsepower, 2014 vorgelegt hat. Détroit nennt sich das (nach wie vor bestehende) Bandprojekt der beiden, das bisher nur ein Studioalbum mit eigenen Songs hervorbrachte („Horizons“, 2013). Ein Jahr später erschien das Live-Doppelalbum „La Cigale“, das neben den Eigenkompositionen auch Titel von Noir Désir zu bieten hat. Und wer möchte nicht die ursprüngliche Version von 2001 und die dreizehn Jahre spätere vergleichen. Natürlich mag es Einbildung sein, aber man glaubt eine ganz andere Stimmung zu spüren. Von der schwebenden Hoffnungsfreude des Originals ist nichts geblieben, Cantats Stimme klingt irgendwie gezeichnet, beschwert, atemloser, ohne die einstige Leichtigkeit. Die Abgründe, die zwischen beiden Fassungen liegen, sind trotzdem allenfalls zu erahnen.
Der Wind, der uns tragen wird – das war ein Versprechen auf eine großartige Zukunft für diese Band und ihre Fans. Doch dann kam alles anders...