Wiedergeboren im Zeichen des Freak-Folk
In etwas veränderter, gleichwohl grandioser Form präsentieren sich Black Country, New Road auf ihrem vierten Album „Forever Howlong“.

Black Country, New Road: Forever Howlong (Ninja Tune)
Viel wird heutzutage als Freak-Folk bezeichnet. Oft genug reicht einfach eine auffällige Stimme wie bei Jessica Pratt oder Joanna Newsom. Aber selbst Musiker wie Bill Callahan oder (die frühe) Angel Olsen sind schon mit Freak-Folk konnotiert worden.
Merke: Wer wissen will, wo das tradierte Idiom Folk wirklich wilde Orgien mit stilistischer Schrankenlosigkeit, musikalischem Nonfonkormismus und echter Verrücktheit feiert, lerne Geschichte und höre die Altmeister dieser Kunst, Pentagle etwa oder insbesondere die Incredible String Band.
Oder „Forever Howlong“, die neue Platte von Black Country, New Road, die sich überraschenderweise öfter einmal an deren Spuren heftet.
Valide Deutung von Rock-Jazz
Die Geschichte von Black Country, New Road ist noch gar nicht einmal so besonders lang und umfangreich – sieben Jahre und nunmehr vier LPs, um genau zu sein – und würde doch schon mühelos eine dieser halbstündigen Dokumentationen füllen, wie man sie zuhauf auf YouTube sehen kann.
Als Abkömmlinge der sogenannten Windmill-Szene stellten sie sich so wie ihre Zeitgenossen und Verbündeten black midi dem Wagnis, verschiedene Spielarten von Rock, vornehmlich aber Post-Punk und Post-Rock, mit Jazz zu verknüpfen und solchermaßen eine valide zeitgenössische Deutung des in den späten 60ern und frühen 70ern zwar oft versuchten, aber selten auch nur annähernd befriedigend realisierten Stil-Hybrids Rock-Jazz zu kreieren.
Black Country, New Road waren stilistisch etwas breiter aufgestellt als die etwas strengeren black midi und integrierten folkloristische und kammermusikalische Elemente in ihre Musik, die solchermaßen von früh an ein Anhauch von Verspieltheit umwehte.
Sie hatten damit auch von Anfang an Erfolg. Ihr zweites Album, „Ants From Up There“, erreichte Platz 3 in den UK-Charts. Aber noch ehe die Platte Anfang Februar 2022 veröffentlicht wurde, stieg Isaac Wood, Gitarrist, Sänger und kreativer Kopf der Band, wegen psychischer Probleme aus.

Black Country, New Road: May Kershaw, Tyler Hyde, Georgia Ellery (oben), Charlie Wayne, Lewis Evans, Luke Mark (© Eddie Whelan)
Der Rest der Band machte als Sextett weiter, einigte sich jedoch darauf, dies nicht mit Woods Songs zu tun. Also schrieb man eilig und eifrig neues Material – und veröffentlichte dieses auf dem wohl ungewöhnlichsten Live-Album der Rock-Geschichte, „Live At Bush Hall“: Ein Konzert-Album mit Songs, von denen es keine Studio-Versionen gibt.
Weil man sich einerseits verbeten und verboten hatte, auf Woods Songs zurückzugreifen und man andererseits unwillig war, die dargebotenen Stücke im Studio weiter zu bearbeiten, beließ man sie so wie sie eben waren und präsentierte solchermaßen das Dokument einer Band in einem Übergangsstadium.
Neue Stimmen
Die stimmlichen Agenden übernahmen nach Woods Abgang vorderhand Bassistin Tyler Hyde und Keyboarderin May Kershaw. Auf der Live-Platte ist vereinzelt auch noch Saxophonist, Klarinettist und Flötist Lewis Evans als Sänger zu hören, doch räumte dieser alsbald den Platz am Mikro.
Trotz seines provisorischen Charakters hat „Live At Bush Hall“ etliche starke Momente und enthält mit dem Opener „Up Song“ eines der besten BCNR-Stücke überhaupt. Inhaltlich eine Beschwörung der Band-internen Freundschaft und unvermittelt von beschaulicher Gangart in explosiven Galopp ausschlagend, entzückt daran insbesondere das naiv-kindlich anmutende Intro. Nur dass dieses mit einem Instrument, nämlich dem Saxophon, gespielt wird, das man gemeinhin nicht mit Kindermusik assoziiert.
Solcher Brüche weist auch das neue Album „Forever Howlong“ mehrere auf. Hier geschehen sie mittels Diskrepanzen zwischen (musikalischen wie auch textlichen) Stilmitteln und Inhalt.
Im Opener „Besties“, in dem eine Frau mit sich ringt, ihrer besten Freundin ihre Liebe zu beichten, schlägt sich ein elegantes barockes Cembalo-Intro mit der bitter-ironischen Anspielung auf das Videoportal TikTok, das Paradebeispiel modischer Flüchtigkeit und Schnelllebigkeit. „Socks“ wiederum scheint die Song-Dramaturgie gegen den Inhalt auszuspielen: „Ich weiß, dass das Leben gut ist und ich mich verstanden fühle. Du auch? Wenn du mir nichts sagst, kommt jetzt der Refrain.“
Im herzzerreißenden „Two Horses“ wird in einem sehr offensichtlich ins 19. Jahrhundert gehörenden Setting die männliche Hauptfigur mit Film-Star James Dean, einer Ikone des 20. Jahrhunderts, verglichen.
Nicht gefälliger, aber zugänglicher
Bei „Forever Forelong“ bekommt das Damen-Duo Hyde und Kershaw gesanglich Zuwachs von einer Dritten im Bunde, nämlich Geigerin Georgia Ellery, bekannt auch durch das Avant-/Electro-Pop-Duo Jockstrap. Die drei Vokalistinnen teilen sich auch, ziemlich paritätisch, die textliche Hoheit; die oft von Improvisation ausgehende musikalische Ausformung ist Kollektivsache.
Es ist nicht so, dass Black Country, New Road auf „Forever Howlong“ radikal mit ihrer Vergangenheit brechen. Wie aus der obigen Reverenz an die Incredible String Band und Pentangle schlüssig hervorgehen sollte, ist das Jazz-Element – vor allem in den vertrackteren Rhythmusstrecken, aber auch in einigen abstrakteren Piano-Figuren – durchaus noch präsent.
Es gruppieren sich darum herum aber Passagen, die die Musik nicht wirklich gefälliger, aber potentiell leichter zugänglich machen. Weiche Teppiche aus akustischen Gitarren, hübsche Einlagen Evans‘ an Holz- und Blechblas-Instrumenten, Blockflöten-Soli (!) und Hintergrundchöre. In besonders schönen Momenten fließen die Gesangs-Parts der drei Vokalistinnen ineinander.

BCNR, ein bisserl durcheinandergeraten (© Eddie Whelan)
Es ist schwer, aus diesem berauschenden Kaleidoskop von Klangfarben, Schattierungen und Stimmungen einzelne Songs hervorzuheben. Da ist wohl das existenzialistische „Socks“ – eine Suite in sich – zu den Höhepunkten zu zählen. Das vergleichsweise fast geradlinige, inhaltlich mit seinen Bezügen zu den Hexenverbrennungen in Massachusetts allerdings ziemlich schaurige „Salem Sisters“. Das hübsche, eher dezent angelegte „Mary“.
Über allem aber schwebt „For The Cold Country“, in dem ein fragiler Chor und eine akustische Gitarre Kershaws engelsgleiche Stimme in himmelhohe Lüfte tragen und schweben lassen, ehe die Rhythmussektion einsetzt und in ein heftiges Finale donnert, um die letzten (nonverbalen) Töne wieder dem Chor zu überlassen.
Der Song handelt von einem Ritter, der möglicherweise gerade begreift, dass seine Zeit vorüber ist.
Was immer es genau bedeuten mag – der mittelalterliche Topic wirkt in keiner Weise abseitig oder deplatziert. Es ist vielmehr so, dass mit solcher Musik alles geht. Alles außer Banalität.

Black Country, New Road: Forever Howlong (Ninja Tune)
Von Anfang an haben folkloristische und kammermusikalische Elemente die Musik mit einer gewissen spielerischen Aura infiltriert.